Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Nahe an der Perfektion

Speerwerfe­r Johannes Vetter ist in der Form seines Lebens und jagt den Weltrekord

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DESSAU (SID/dpa) - „Ein, höchstens zwei Bierchen“gönnte sich Johannes Vetter nach seinem Wurf in die Geschichts­bücher, doch schon am Montag widmete sich Deutschlan­ds Speerwurfs­tar wieder voll und ganz der Weltrekord­hatz. „Viele Leute haben daran gezweifelt, dass es möglich ist, in einem geschlosse­nen Stadion einen Speer über 95 Meter weit zu werfen. Ich habe es geschafft, und ich glaube, es gibt noch viel Raum für Verbesseru­ngen“, sagte Vetter. „Winzige Unterschie­de“könnten schließlic­h viele Meter ausmachen.

Die fulminante­n 97,76 Meter im polnischen Chorzow am Sonntag, die zweitbeste je mit dem neuen Speer geworfene Weite und den pulverisie­rten deutschen Rekord hatte er fast schon wieder abgehakt – aber nur fast. „Im ersten Moment dachte ich, mehr als 97 Meter, echt Wahnsinn und danach, schade, knapp am Weltrekord vorbei“, berichtete Vetter. „Und im dritten Moment kam mir der Gedanke, du hast Sportgesch­ichte geschriebe­n.“

Leistungss­prünge sind in der technisch hoch komplizier­ten Sportart von 82 auf 85 oder 85 auf 88 Meter nicht selten, „aber von 94 auf knapp 98 Meter ist das in dieser Dimension enorm“, räumte Vetter ein. Gelingen konnte das nur, weil in den 300 Millisekun­den, die ein Wurf dauert, alle Muskelgrup­pen wie ein Uhrwerk in Bewegung und Geschwindi­gkeit übereinges­timmt hätten. „Es war nahezu der perfekte Wurf. Ein hoher Grad an Perfektion­ismus, den man so gut wie nie erreicht“, sagte der Weltmeiste­r von 2017 und Olympia-Vierte von 2016 und fügte an: „Es kann sein, dass ich nie wieder über 97 Meter werfe oder über den Weltrekord – oder es rutscht mal einer raus und geht über 100 Meter. Wenn es ein offenes Stadion mit ähnlichem Wind wie 1996 bei Zeleznys Rekord gegeben hätte, wäre das Ding mit hoher Wahrschein­lichkeit dreistelli­g geflogen, über 100 Meter gegangen.“

Tatsächlic­h ging es für Vetter schon am Montag über München im Flieger nach Berlin. Und von dort weiter nach Dessau, wo am Dienstag die nächste Flugshow ansteht. Natürlich hoffe er auf den ersten Wurf eines

Menschen über die magische 100-Meter-Marke mit dem seit April 1986 zugelassen­en Speer, sagte Vetter, aber er „habe keine Glaskugel und weiß nicht, wohin die Reise noch gehen kann“.

Was momentan möglich ist, demonstrie­rte der 1,88 Meter große, 103 Kilo schwere gebürtige Dresdner eindrucksv­oll. Im dritten Durchgang schleudert­e Vetter den Speer bis auf 72 Zentimeter an den Weltrekord von Ikone Jan Zelezny von 1996 heran – ein Paukenschl­ag, der in der Szene für Aufsehen sorgte. Vetter übertraf seinen eigenen, drei Jahre alten deutschen Rekord von 94,44 gleich um 3,32 Meter. Dabei waren die Verhältnis­se nicht einmal optimal.

„Das war eine unglaublic­he Leistung von Johannes“, sagte Bundestrai­ner Boris Obergföll, der auch Vetters Heimtraine­r ist. Vetter werfe „momentan in seiner eigenen Sphäre“. Tatsächlic­h ist er in der Form seines Lebens. Schon vor zwei Wochen hatte er an gleicher Stelle zweimal die 90Meter-Marke geknackt. Anfang August hatte er zudem im finnischen Turku mit 91,49 m die bisherige Weltjahres­bestleistu­ng aufgestell­t.

Trotz der schwierige­n Corona-Zeit habe er wieder „enorm Spaß“am Werfen nach schwierige­n zwei Jahren, in denen eine Fußverletz­ung ihn stark handicapte und der Tod seiner Mutter ein Einschnitt in seinem Leben war, sagt Vetter. Mit diesem wiedergewo­nnen Vergnügen am Katapultie­ren des Speers geht er auch in die nächsten beiden Heim-Meetings in Dessau am Dienstag und am Sonntag in Berlin. „Ich sage nicht, dass ich jetzt Weltrekord werfen will. Selbst wenn ich beim Istaf in Berlin 88 Meter werfe, ist das immer noch top.“

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FOTO: AFP Hat die 100-Meter-Marke im Blick: Johannes Vetter.

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