Wutanfall mit bösen Folgen
Novak Djokovic wird disqualifiziert und macht den Eindruck, sich verzettelt zu haben
NEW YORK (dpa/SID) - Nach seinem folgenschweren Aussetzer bei den US Open brauste Novak Djokovic im Tesla davon, ohne an der obligatorischen Videokonferenz teilzunehmen. Auf dem Beifahrersitz verließ der serbische Weltranglisten-Erste jenen Ort, an dem er eine Woche später seinen 18. Grand-Slam-Titel feiern wollte. Alles war angerichtet. Seine größten Rivalen Rafael Nadal (19 Grand-Slam-Titel) und Roger Federer (20) fehlten, Djokovic war 2020 noch ungeschlagen. Doch dann warf sich der 33-Jährige mit einer Disziplinlosigkeit selbst aus dem Turnier und öffnete damit die Tür für einen neuen Grand-SlamChampion – durch die nun Alexander Zverev gehen möchte. Seit den US Open 2016 hatten die drei Stars die Titel bei den vier Majors stets unter sich ausgemacht. Das letzte, bei dem keiner aus dem Trio im Halbfinale stand, waren die French Open 2004.
„Nun wird es interessant“, sagte Zverev. „Ich bin nicht der Einzige, der eine Chance hat. Ich hoffe, dass ich mich weiter im Turnier entwickeln kann“, sagte der Hamburger, der am Dienstag im Kampf um den Einzug ins Halbfinale gegen den Kroaten Borna Coric erneut favorisiert ist.
Djokovic hatte im Achtelfinale gegen den Spanier Pablo Carreño Busta am Sonntag nach einem verlorenen Aufschlagspiel beim Stand von 5:6 wütend einen Ball weggeschlagen und dabei unabsichtlich eine Linienrichterin am Kehlkopf getroffen. Die Frau ging zu Boden und rang um ihren Atem. Djokovic war völlig erschrocken über die Situation. Nach zehnminütiger Debatte mit dem Schiedsrichter wurde er dennoch disqualifiziert. „Er hat einen Fehler gemacht. Er ist zu Recht ausgeschieden“, sagte Boris Becker, Ex-Coach von Djokovic. US-Ikone John McEnroe sprach von einer „saublöden“Aktion und kritisierte, dass Djokovic danach nicht „seinen Mann stand“. „Er musste disqualifiziert werden“, sagte Turnier-Schiedsrichter Soeren Friemel und betonte, eine derartige Entscheidung sei unabhängig von einem großen Namen wie Djokovic zu treffen.
Serbiens Medien dagegen witterten eine Verschwörung. Das regierungsnahe Boulevardblatt „Informer“ging so weit, die Linienrichterin als „Liebhaberin Kroatiens“– des Erzfeinds also, zu entlarven. Das Portal veröffentlichte private Fotos vom Twitter-Account der Frau, darunter Urlaubsbilder aus Dubrovnik und Flaschen mit edlem kroatischen Wein.
Auch wenn Becker auch Verständnis äußerte („Kein Mensch kann ihm vorwerfen, dass er absichtlich diesen Ball auf die Linienrichterin schlagen möchte, auch noch genau auf ihren Hals. Wenn er an den Arm kommt oder daneben, dann passiert gar nichts“), ist Djokovics turbulentes Jahr nun um eine Story reicher.
Bei der von ihm organisierten Adria Tour hatten Djokovic und andere
„Diese ganze Situation macht mich wirklich traurig und leer.“Novak Djokovic auf Facebook
Spieler wie Zverev und der Österreicher Dominic Thiem mit Partybildern inmitten der Pandemie für negative Schlagzeilen gesorgt. Djokovic und seine Frau Jelena wurden selbst positiv getestet. Reue aber zeigte Djokovic auch mit etwas Abstand kaum. „Wenn ich die Gelegenheit hätte, die Adria Tour noch einmal zu machen, würde ich es wieder tun“, sagte er.
Nach Wiederaufnahme der Tour gewann Djokovic das Masters in New York, doch kurz vor den US Open versetzte er mit der Gründung einer neuen Spielergewerkschaft die Branche in Aufruhr. Seine Erzrivalen Nadal und Federer machten aus der Ferne sofort ihre Ablehnung öffentlich.
Es ist das nächste Kapitel in der Auseinandersetzung der Großen Drei. Nichts wünscht sich Djokovic sehnlicher, als dass ihm die gleiche Anerkennung zuteil wird wie Nadal und Federer. Während der Spanier und der Schweizer weltweit verehrt werden, wirkt Djokovic meist wie das fünfte Rad am Wagen. Als „ungeliebten Giganten der Großen Drei“bezeichnete die „Süddeutsche Zeitung“einst Djokovic.
Im Streben nach Zuneigung, Akzeptanz und Ruhm scheint sich der Serbe nun verzettelt zu haben. „Ich habe das Gefühl, dass Novak zu viel auf seinem Teller hatte. Zu versuchen, die US Open zu gewinnen, ist bereits eine große Sache. Diese Spieler-Organisation zu starten und eine Kampagne zu führen, um Spieler davon zu überzeugen, ist ein Fulltime-Job und jede Menge Extra-Stress. Niemand kann es sich leisten, während eines Grand Slams den Fokus zu verlieren“, schrieb der in der Szene hoch anerkannte Trainer von Serena Williams, Patrick Mouratoglou.
Djokovic, der die in New York geholten Ranglistenpunkte und Prämien verliert, bat einige Stunden nach seinem Blackout in den sozialen Medien um Verzeihung und zeigte sich zerknirscht. „Diese ganze Situation macht mich wirklich traurig und leer“, schrieb Djokovic, er wolle die Vorfälle in eine „Lebenslektion“für sich verwandeln, „damit ich als Mensch, aber auch als Tennisspieler weiter wachsen und mich enwickeln kann.“Es tue ihm „extrem leid“, seine Aktion sei „so unbeabsichtigt, so falsch“gewesen.
Doch der Makel, bei einem GrandSlam-Turnier disqualifiziert worden zu sein – Djokovic ist der fünfte Mann, dem das seit 1968 passierte –, wird ihm anhaften. Federer und Nadal gelten als Gentlemen der Tennis-Szene. Djokovic nun eher als Rüpel und als einer, der auf der Suche nach sich selbst noch nicht angekommen ist.