„Gefährlich wird es, wenn ein Kind am Pranger steht“
Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert über Folgen einer Corona-Quarantäne
Herr Professor Fegert, bei CoronaFällen werden einzelne Schulklassen in Quarantäne geschickt. Was kann es bei einem Kind auslösen, wenn wegen seiner Infektion die ganze Klasse oder die ganze Schule nach Hause muss?
Die Gefahr ist groß, dass so ein Kind quasi zum Sündenbock wird und das Kind, teilweise auch die Eltern, den Ärger der anderen abbekommen nach dem Motto ,Wegen dir versäumen wir jetzt Unterricht’. Insofern kommt es essenziell darauf an, solche Maßnahmen richtig und fair zu kommunizieren. Wir alle haben derzeit wieder ein verstärktes Risiko, uns anzustecken. Natürlich sollten alle möglichst gut darauf achten, Risiken zu vermeiden. Wenn es aber passiert ist, geht es vor allem darum, konsequent die Gefährdung einzugrenzen. Da muss eben mal eine Klasse in Quarantäne. Es ist sicher gut, wenn nicht erst im Ernstfall über solche Situationen gesprochen wird. Ich empfehle, dass Klassenlehrer auch ansprechen, dass Mobbing oder Herabsetzung gar nicht geht.
Wenn ein Schüler krank fehlt, spielt das normal vermutlich keine große Rolle. Nun weiß oft die ganze Schule: Das ist der Corona-Patient.
Das lässt sich kaum verhindern, Datenschutz hin Vertraulichkeit her. Es ist verständlich, dass Kinder und Jugendliche in einer angstbesetzten Situation tuscheln und sich Informationen weitergeben. Das finde ich normal und hier sollte man auch nicht zu sehr moralisieren. Gefährlich und belastend wird es, wenn das betroffene Kind an den Pranger gestellt wird, wenn in Klassenchats negativ über das Kind geredet wird.
Manche Schulen mahnen in InfoSchreiben, dass Kinder nach einer Corona-Infektion nicht gemieden werden sollen. Was, wenn doch? Wenn ein Kind sozial geschnitten wird oder noch schlimmer, wenn es aktiv gemobbt wird, beschimpft wird, kann dies zu einer erheblichen psychischen Belastung durch Scham und Ausgrenzung führen. Wir bezeichnen das mit dem Fachbegriff Stigmatisierung. Jemand wird quasi abgestempelt als derjenige, der schuld ist oder als diejenige, die nicht aufgepasst hat und unter der jetzt alle leiden müssen.
Was kann man dagegen tun? Wichtig sind in solchen Situationen immer auch die ,Bystander’ – also Kinder, die drumherum stehen und die Chance hätten, Klassenkameraden zurückzupfeifen. Dies gilt für jedes Mobbing. Herabsetzung im Klassenzimmer lässt sich nicht nur dadurch bekämpfen, dass man betreffende Schüler ermahnt. Wichtiger ist, dass sie ein Feedback aus der Klasse bekommen und dass die Mitschüler so etwas nicht zulassen.
Wie sollten Schulen Kinder und Eltern über eine Quarantäne informieren?
Schulen sollten möglichst sachlich informieren und deutlich machen, dass, wenn möglich, alternative Unterrichtsangebote gemacht werden. Es kann sinnvoll sein, eine allgemeine Information nicht erst im Ernstfall, sondern noch in ,Friedenszeiten’ herauszugeben und Umgangsregeln für solche Fälle mit Schülern und Eltern anzusprechen. Darauf kann man sich beziehen, wenn es ernst wird.
Wie sollten Lehrer, Schulleitung und Eltern mit Kindern über Corona-Infektionen und Erkrankte sprechen?
Nun, das ist altersabhängig. Bei kleineren Kindern geht es darum, deutlich zu machen, dass für sie das Risiko von Folgen dieser Erkrankung relativ gering ist und dass es wichtig ist, jetzt brav die Kontaktverbote einzuhalten, um niemanden anzustecken. Wichtig sind dann zum Beispiel Skype-Termine mit Freunden oder Großeltern. Wichtig erscheint es mir auch, Verständnis für die Erkrankten zu wecken und vorzubereiten, dass diese normal in die Klasse zurückkehren können. Ohne Skandalisierung und Schuldvorwürfe. Oft lässt sich nicht klar bestimmen, wer
Woran erkennen Lehrer, wenn Kinder durch die Pandemie und ihre Folgen psychische Probleme bekommen?
So einfach ist das für Lehrer nicht zu erkennen. Schüler, die starke Ängste haben, können die besondere Anspannungslage gezielt nutzen und ihren Eltern sagen, dass sie sich schlecht fühlen. Dann können sie einen Schulbesuch vermeiden. Ängstliche Kinder mit einer Trennungsangststörung werden sonst in der Regel auch mit Unterstützung der Therapeuten aufgefordert, auf jeden Fall in die Schule zu gehen. Dies kann derzeit bei Anzeichen erhöhter Temperatur, bei subjektivem Erkrankungsempfinden kaum umgesetzt werden. Dadurch bildet sich ein neuer großer Spielraum für Vermeidungsverhalten. Insofern sollten Lehrer Abwesenheitstage zurzeit genau im Blick behalten und bei einer Häufung gegebenenfalls die Eltern ansprechen.
Haben Sie Veränderungen in der Corona-Krise beobachtet?
Zu Beginn haben wir beobachtet, dass bestimmte psychische Probleme verschleppt werden. Manche Patienten mit zunehmender Lebensmüdigkeit und wachsenden Suizidgedanken wurden aus Angst vor Ansteckung im klinischen Setting zu spät zur Abklärung vorgestellt. Wenn sich Eltern oder Lehrer Sorgen um ein Kind machen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass man etwas tun muss, deutlich höher als die Wahrscheinlichkeit, dass man übervorsichtig war. Rechtzeitig handeln ist immer besser als zu spät zu kommen.