In ihrem Elternhaus pulsierte das Dorfleben
Maria Lerner, ehemalige Wirtin des Gasthauses „Grüner Baum“in Baltringen, wird am Sonntag 100 Jahre alt
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BALTRINGEN - Am Sonntag waren es 100 Jahre, dass Maria Lerner, geborene Schädler, in Baltringen das Licht der Welt erblickt hat. Wenn sie erzählt von ihrem Leben, wird schnell klar, was ihr Lebenselixier ist: Arbeit, der Glaube, die Gemeinschaft mit der Familie, aber auch mit Dorfbewohnern. Diese Gemeinschaft hat sie hautnah erlebt im Gasthaus „Grüner Baum“in Baltringen. Sie war die Wirtin, und das mit Begeisterung.
Wenn man in so hohem Alter zurückblickt, kann man was erzählen. Maria Lerners Erinnerungen verhallen nicht, denn sie hat das in Jahrzehnten Erlebte zu Papier gebracht. Herausgekommen ist ein tiefer Blick ins Dorfleben im vergangenen Jahrhundert. Ein exzellentes Erinnerungsvermögen ist ihr dabei behilflich. „Mir ist alles noch gut in Erinnerung“, schreibt sie beispielsweise über das Hochwasser von 1926. Tagelanger Dauerregen sei der Überflutung voraufgegangen. Ein Menschenleben sei zu beklagen gewesen. Sie ist heute die einzige Zeitzeugin der Hochwasserkatastrophe.
Damals, in den 1920er-Jahren, steckte die Technik in Landwirtschaft und Handwerk noch in den Kinderschuhen. „Morgens um vier Uhr ging Vater im Sommer mit der Sense hinaus zum Mähen und nahm noch einen Tagelöhner mit“, schreibt Maria Lerner. Zwei bis drei Arbeitskühe standen in jener Zeit im Stall. Um satt zu werden, reichte ein Beruf nicht. Der Vater war Metzger, Landwirt, Viehhändler, Gastwirt und „halber Viehdoktor“. Er wurde von einem Tierarzt in diese Tätigkeit eingelernt. Sämtliche Fahrten in die Dörfer ringsum wurden mit dem Fahrrad bewältigt und die Schweine für den Verkauf mit dem Berner-Wägele, einer Kutsche, transportiert.
Wie aus einer fernen Welt erscheint die Erinnerung an den Karrensalbenmann Zehringer. „Er hatte ein Hundegespann an seinem Karren. Schon morgens gab es ein Schnäpsle in der Gaststube und für die Hunde fiel immer etwas aus der Metzgerei ab. Oft kam er am Abend wieder, band sein Hundegespann vor die Wirtschaft und fuhr erst gegen Mitternacht heim nach Walpertshofen. Er hockte auf seinem Karren mit Tabakspfeife und Peitsche und los ging’s im Galopp und großem Holdrio und Hundegebell durchs Dorf.“
Im elterlichen Haus der Hundertjährigen, wo es heute so ruhig ist, pulsierte vor allem in den Vorkriegsjahren das Leben. Die Jubilarin erzählt in ihren Erinnerungen von Handwerksburschen und von armen Leuten, für die es immer etwas zu essen gab. Täglich wurde Mittagstisch für Lehrer oder Lehrerin, alleinstehende Männer und die Herren vom Rathaus wie Notar und Verwaltungsaktuar serviert. Die Hauptverkehrsstraße von Ulm nach Friedrichshafen führte bis 1934 am Haus vorbei. „Die Leute waren meistens mit dem Fahrrad oder Fuhrwerk unterwegs und legten hier Rast ein, die Pferde wurden auch gefüttert und getränkt.“
Maria Lerner erzählt auch von den Brunnenmachern aus Baltringen und Mietingen: „Das waren drei lustige, durstige Gesellen. Sie kamen oft stundenlang zum Durstlöschen in den Grünen Baum.“Vor allem abends herrschte Hochbetrieb, die Wirtschaft wurde zum Treffpunkt von Bauern und Knechten, „die jungen Burschen saßen im Nebenzimmer“. Eingeprägt haben sich die Sonntagabende. Es kamen junge Leute aus Mietingen, haben musiziert und gesungen, darunter Karl Braiger, der spätere Dirigent der Stadtkapelle Laupheim. „Es war immer sehr lustig.“Die ehemalige „Baum“-Wirtin muss aber auch einräumen: „Man konnte nie richtig ausschlafen, wir hatten keinen Ruhetag. Familienleben gab es kaum.“Und sie bemerkt vielsagend: „Darüber will ich lieber schweigen.“
Schon mit 14 Jahren hatte sie die Schulpflicht erledigt. Noch ein Jahr Haushaltungsschule in Stuttgart, dann musste die Jubilarin zunehmend die Aufgaben der Mutter übernehmen, die schwer erkrankt war. Über sie schreibt sie: „Unsere liebe Mutter war mit Leib und Seele eine gute Wirtin, war sehr beliebt bei den Gästen. Hat sich gerne mit ihnen unterhalten, gesungen und Karten gespielt.“
Der Zweite Weltkrieg spülte viele Evakuierte ins Haus, die dem Bombenkrieg in den Städten entflohen. Die Lebensmittel waren rar. „Wir waren dann schon froh, dass wir die Landwirtschaft hatten.“Das bedeutete aber auch: „Morgens um vier Uhr musste ich mit meiner Schwester hinaus und Gras mähen.“
Ihrem Ehemann Eugen Lerner begegnete die Jubilarin erstmals im Herbst 1949. „Bald darauf haben die Herzen zusammengefunden“, und schon ein Jahr danach wurde Hochzeit gefeiert. Das fehlende Puzzleteil für den Fortbestand von Gasthaus und Metzgerei ward damit gefunden. Denn auch der frischgebackene Ehemann hatte den Metzgerberuf erlernt.
Während der Zeit des Wirtschaftswunders in den 50er-Jahren wurde der Metzgerladen vergrößert, wurden Schlachthaus und Wurstküche gebaut. Für die junge Frau bedeutete dies: „Wir hatten viel Arbeit von früh morgens bis spät in die Nacht. Sieben Tage die Woche.“Die Fülle an Tätigkeiten hat sie sich mit ihrer fünf Jahre älteren Schwester aufgeteilt. Und dennoch: Es war nicht zu bewältigen. Der Familienbetrieb stieß an seine Grenzen. Die Landwirtschaft wurde infolgedessen 1967 aufgegeben.
Der Ehe waren nur 20 Jahre beschieden. Der Ehepartner wurde 1970 zu Grabe getragen. Jetzt musste sich Sohn Eugen im Sauseschritt für die Übernahme der Metzgerei qualifizieren. Aufs Neue vergrößerte man die Verkaufsfläche der Metzgerei.
Elf Jahre nach der Landwirtschaft trennte sich die Familie auch von der Gastronomie. „Es war für mich schon eine Umstellung“, hält die „Baum“-Wirtin in ihren Erinnerungen fest. „Es wäre mir auch zu viel geworden.“
Neunzigjährig hat Maria Lerner das Buch ihrer Erinnerungen zur Seite gelegt. Zuvor war sie im Jahr 2005 schwer erkrankt. Kinder und Enkel versammelten sich zum Abschiednehmen um das Bett. Was dann geschah, „war wie ein Wunder“. Ihr wurde im Nachhinein davon berichtet. „Meine Enkelin Anna hat lieb und gut und laut auf mich eingesprochen, und ich habe dann die Augen wieder geöffnet.“
Seit gut einem Jahr wohnt Maria Lerner jetzt im Wohnpark Sankt Klara in Schemmerhofen. Zuvor wurde sie mehrere Jahre von ihren drei Kindern liebevoll rund um die Uhr zu Hause gepflegt. „Ich fühle mich wohl hier im Wohnpark“, wird die Mutter von ihrer Tochter Marianne zitiert. Große Freude bereite es der ältesten Bürgerin Baltringens, wenn sie in die Natur begleitet wird. Es kann schon sein, dass sie dann vergnügt eines jener Lieder singt, die einst im Gasthaus „Grüner Baum“angestimmt wurden. „Sie genießt das, was geht“, sagt Tochter Marianne. „Und sie ist, wie schon immer, überaus dankbar, jammert nicht über die Beschwerden des Alters und ist zufrieden.“