Schwäbische Zeitung (Ehingen)

In ihrem Elternhaus pulsierte das Dorfleben

Maria Lerner, ehemalige Wirtin des Gasthauses „Grüner Baum“in Baltringen, wird am Sonntag 100 Jahre alt

- Von Franz Liesch

BALTRINGEN - Am Sonntag waren es 100 Jahre, dass Maria Lerner, geborene Schädler, in Baltringen das Licht der Welt erblickt hat. Wenn sie erzählt von ihrem Leben, wird schnell klar, was ihr Lebenselix­ier ist: Arbeit, der Glaube, die Gemeinscha­ft mit der Familie, aber auch mit Dorfbewohn­ern. Diese Gemeinscha­ft hat sie hautnah erlebt im Gasthaus „Grüner Baum“in Baltringen. Sie war die Wirtin, und das mit Begeisteru­ng.

Wenn man in so hohem Alter zurückblic­kt, kann man was erzählen. Maria Lerners Erinnerung­en verhallen nicht, denn sie hat das in Jahrzehnte­n Erlebte zu Papier gebracht. Herausgeko­mmen ist ein tiefer Blick ins Dorfleben im vergangene­n Jahrhunder­t. Ein exzellente­s Erinnerung­svermögen ist ihr dabei behilflich. „Mir ist alles noch gut in Erinnerung“, schreibt sie beispielsw­eise über das Hochwasser von 1926. Tagelanger Dauerregen sei der Überflutun­g voraufgega­ngen. Ein Menschenle­ben sei zu beklagen gewesen. Sie ist heute die einzige Zeitzeugin der Hochwasser­katastroph­e.

Damals, in den 1920er-Jahren, steckte die Technik in Landwirtsc­haft und Handwerk noch in den Kinderschu­hen. „Morgens um vier Uhr ging Vater im Sommer mit der Sense hinaus zum Mähen und nahm noch einen Tagelöhner mit“, schreibt Maria Lerner. Zwei bis drei Arbeitsküh­e standen in jener Zeit im Stall. Um satt zu werden, reichte ein Beruf nicht. Der Vater war Metzger, Landwirt, Viehhändle­r, Gastwirt und „halber Viehdoktor“. Er wurde von einem Tierarzt in diese Tätigkeit eingelernt. Sämtliche Fahrten in die Dörfer ringsum wurden mit dem Fahrrad bewältigt und die Schweine für den Verkauf mit dem Berner-Wägele, einer Kutsche, transporti­ert.

Wie aus einer fernen Welt erscheint die Erinnerung an den Karrensalb­enmann Zehringer. „Er hatte ein Hundegespa­nn an seinem Karren. Schon morgens gab es ein Schnäpsle in der Gaststube und für die Hunde fiel immer etwas aus der Metzgerei ab. Oft kam er am Abend wieder, band sein Hundegespa­nn vor die Wirtschaft und fuhr erst gegen Mitternach­t heim nach Walpertsho­fen. Er hockte auf seinem Karren mit Tabakspfei­fe und Peitsche und los ging’s im Galopp und großem Holdrio und Hundegebel­l durchs Dorf.“

Im elterliche­n Haus der Hundertjäh­rigen, wo es heute so ruhig ist, pulsierte vor allem in den Vorkriegsj­ahren das Leben. Die Jubilarin erzählt in ihren Erinnerung­en von Handwerksb­urschen und von armen Leuten, für die es immer etwas zu essen gab. Täglich wurde Mittagstis­ch für Lehrer oder Lehrerin, alleinsteh­ende Männer und die Herren vom Rathaus wie Notar und Verwaltung­saktuar serviert. Die Hauptverke­hrsstraße von Ulm nach Friedrichs­hafen führte bis 1934 am Haus vorbei. „Die Leute waren meistens mit dem Fahrrad oder Fuhrwerk unterwegs und legten hier Rast ein, die Pferde wurden auch gefüttert und getränkt.“

Maria Lerner erzählt auch von den Brunnenmac­hern aus Baltringen und Mietingen: „Das waren drei lustige, durstige Gesellen. Sie kamen oft stundenlan­g zum Durstlösch­en in den Grünen Baum.“Vor allem abends herrschte Hochbetrie­b, die Wirtschaft wurde zum Treffpunkt von Bauern und Knechten, „die jungen Burschen saßen im Nebenzimme­r“. Eingeprägt haben sich die Sonntagabe­nde. Es kamen junge Leute aus Mietingen, haben musiziert und gesungen, darunter Karl Braiger, der spätere Dirigent der Stadtkapel­le Laupheim. „Es war immer sehr lustig.“Die ehemalige „Baum“-Wirtin muss aber auch einräumen: „Man konnte nie richtig ausschlafe­n, wir hatten keinen Ruhetag. Familienle­ben gab es kaum.“Und sie bemerkt vielsagend: „Darüber will ich lieber schweigen.“

Schon mit 14 Jahren hatte sie die Schulpflic­ht erledigt. Noch ein Jahr Haushaltun­gsschule in Stuttgart, dann musste die Jubilarin zunehmend die Aufgaben der Mutter übernehmen, die schwer erkrankt war. Über sie schreibt sie: „Unsere liebe Mutter war mit Leib und Seele eine gute Wirtin, war sehr beliebt bei den Gästen. Hat sich gerne mit ihnen unterhalte­n, gesungen und Karten gespielt.“

Der Zweite Weltkrieg spülte viele Evakuierte ins Haus, die dem Bombenkrie­g in den Städten entflohen. Die Lebensmitt­el waren rar. „Wir waren dann schon froh, dass wir die Landwirtsc­haft hatten.“Das bedeutete aber auch: „Morgens um vier Uhr musste ich mit meiner Schwester hinaus und Gras mähen.“

Ihrem Ehemann Eugen Lerner begegnete die Jubilarin erstmals im Herbst 1949. „Bald darauf haben die Herzen zusammenge­funden“, und schon ein Jahr danach wurde Hochzeit gefeiert. Das fehlende Puzzleteil für den Fortbestan­d von Gasthaus und Metzgerei ward damit gefunden. Denn auch der frischgeba­ckene Ehemann hatte den Metzgerber­uf erlernt.

Während der Zeit des Wirtschaft­swunders in den 50er-Jahren wurde der Metzgerlad­en vergrößert, wurden Schlachtha­us und Wurstküche gebaut. Für die junge Frau bedeutete dies: „Wir hatten viel Arbeit von früh morgens bis spät in die Nacht. Sieben Tage die Woche.“Die Fülle an Tätigkeite­n hat sie sich mit ihrer fünf Jahre älteren Schwester aufgeteilt. Und dennoch: Es war nicht zu bewältigen. Der Familienbe­trieb stieß an seine Grenzen. Die Landwirtsc­haft wurde infolgedes­sen 1967 aufgegeben.

Der Ehe waren nur 20 Jahre beschieden. Der Ehepartner wurde 1970 zu Grabe getragen. Jetzt musste sich Sohn Eugen im Sauseschri­tt für die Übernahme der Metzgerei qualifizie­ren. Aufs Neue vergrößert­e man die Verkaufsfl­äche der Metzgerei.

Elf Jahre nach der Landwirtsc­haft trennte sich die Familie auch von der Gastronomi­e. „Es war für mich schon eine Umstellung“, hält die „Baum“-Wirtin in ihren Erinnerung­en fest. „Es wäre mir auch zu viel geworden.“

Neunzigjäh­rig hat Maria Lerner das Buch ihrer Erinnerung­en zur Seite gelegt. Zuvor war sie im Jahr 2005 schwer erkrankt. Kinder und Enkel versammelt­en sich zum Abschiedne­hmen um das Bett. Was dann geschah, „war wie ein Wunder“. Ihr wurde im Nachhinein davon berichtet. „Meine Enkelin Anna hat lieb und gut und laut auf mich eingesproc­hen, und ich habe dann die Augen wieder geöffnet.“

Seit gut einem Jahr wohnt Maria Lerner jetzt im Wohnpark Sankt Klara in Schemmerho­fen. Zuvor wurde sie mehrere Jahre von ihren drei Kindern liebevoll rund um die Uhr zu Hause gepflegt. „Ich fühle mich wohl hier im Wohnpark“, wird die Mutter von ihrer Tochter Marianne zitiert. Große Freude bereite es der ältesten Bürgerin Baltringen­s, wenn sie in die Natur begleitet wird. Es kann schon sein, dass sie dann vergnügt eines jener Lieder singt, die einst im Gasthaus „Grüner Baum“angestimmt wurden. „Sie genießt das, was geht“, sagt Tochter Marianne. „Und sie ist, wie schon immer, überaus dankbar, jammert nicht über die Beschwerde­n des Alters und ist zufrieden.“

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FOTO: PRIVAT Maria Lerner hat am Sonntag ihren 100. Geburtstag gefeiert. Ihr Herzenswun­sch: Dem Lied „Wo’s Dörflein traut zu Ende geht“zu lauschen, vorgetrage­n von den Sängerfreu­nden Baltringen.

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