Erst Kampfansagen an Putin, dann dreieinhalb Jahre Haft
Kreml-Kritiker Nawalny soll gegen Bewährungsauflagen verstoßen haben – Bundesregierung fordert Freilassung
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MOSKAU - Der Kreml-Gegner Alexej Nawalny ist wie erwartet durch ein Moskauer Gericht zu dreieinhalb Jahren Straflagerhaft verurteilt worden. Der 44-Jährige habe mehrfach gegen Bewährungsauflagen verstoßen, teilte das Gericht am Dienstag mit. Deshalb wurde eine frühere Bewährungsnun in eine echte Haftstrafe umgewandelt. Die Bundesregierung forderte nach dem Urteil eine sofortige Freilassung des Oppositionsführers.
Putin fühle sich durch ihn beleidigt, weil er seinetwegen als Giftmörder in die Geschichte eingehe, Alexei Nawalny lächelte unfroh, unter dunklen Augenrändern. Aber seine Worte strotzten vor Angriffslust. „Halb Moskau ist abgesperrt, weil wir gezeigt haben, dass Putin die Unterhosen seiner Gegner stehlen und mit chemischen Kampfstoffen beschmieren lässt.“
Gestern hat die Richterin Natalia Repnikowa im Moskauer Stadtgericht eine Bewährungsstrafe gegen den im August in Sibirien vergifteten Oppositionspolitiker Nawalny in eine reale Haftzeit von zweieinhalb Jahren umgewandelt. Sie schloss sich der Meinung der Anklage an, er habe bei seinem Genesungsaufenthalt in Deutschland systematisch gegen die Bewährungsauflagen verstoßen. Die Richterin folgte dabei dem Antrag der Staatsanwältin Jekaterina Frolowa,
die ursprüngliche Frist von dreieinhalb Jahren zu kürzen, weil Nawalny etwa ein Jahr der Strafe schon im Hausarrest abgesessen hatte.
Schon vor dem Beginn der Verhandlung am Dienstag gab es in der Umgebung des Gerichtes reihenweise Festnahmen. Bei Protesten am Sonntag waren knapp 5800 Russen festgenommen und über 40 Strafverfahren gegen Regimegegner eröffnet worden. Hunderte Festgenommene warteten noch gestern in Bussen vor überfüllten Moskauer und Petersburger Polizeiwachen auf ihr weiteres Schicksal. Viele stehend, ohne Nahrung. Im Lauf des Tages kamen laut dem Bürgerrechtsportal OVDInfo etwa 360 Festgenommene hinzu.
Drinnen ging es indess um die Frage, ob Nawalnys Deutschlandaufenthalt nach seiner Vergiftung einen triftigen Grund dafür darstellte, dass er in dieser Zeit seiner persönlichen Meldepflicht bei einer Moskauer FSIN-Inspektion nicht nachgekommen war. 2014 war er wegen angeblichen Betruges zu dreieinhalb Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden. Dabei hatte das Gericht unter anderem die Erklärung der angeblich geschädigten Firma Yves Rocher Vostok ignoriert, Nawalny habe ihr keinerlei finanzielle Schäden zugefügt.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte konstatierte nach dem Urteil, die russische Justiz habe das Recht Nawalnys auf ein faires
Gerichtsverfahren verletzt. Russland zahlte den Brüdern Nawalny danach umgerechnet 76 000 Euro Entschädigung. Trotzdem bestätigte das russische Oberste Gericht das Urteil.
Nawalnys Bewährungsfrist endete am 30. Dezember 2020. Er befand sich damals nach seiner Entgiftungskur in der Berliner Charité noch in Deutschland. Am 28. Dezember hatte die FSIN verkündet, Nawalny ignoriere nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus Ende September die Bewährungsauflagen. Die Behörde drohte mit strafrechtlichen Konsequenzen.
Alexander Jermolin, der FSINVertreter vor Gericht, warf Nawalny vor, er sei zu sieben Terminen nicht erschienen, wollte untertauchen, man habe dem Verurteilten Mahnungen zugestellt. „Aber Nawalny hat die nötigen Schlüsse nicht gezogen.“Verteidiger Wadim Kobsew dagegen legte ein Schreiben der Charité-Intensivtherapeuten vor, Nawalnys Behandlung sei ambulant fortgesetzt worden. Und er habe sich nie vor der FSIN verborgen.
Am 13. Januar hatte Nawalny seine Rückkehr nach Moskau angekündigt, einen Tag später erklärte die FSIN, sie habe ihn am 29. Dezember zur Fahndung ausgeschrieben. In Moskau wurden Vermutungen laut, die Obrigkeit wolle Nawalny so von einer Heimkehr abschrecken. Er flog am 17. Januar trotzdem ein, wurde prompt verhaftet.
„Wenn die Willkür sich Ihre Uniformen anzieht und so tut, als wären sie Gesetz, ist es die Pflicht jedes ehrlichen Menschen, mit aller Kraft gegen Sie zu kämpfen.“Nawalny attackierte gestern Putins gesamtes Regime furios. Befürchten muss er weitere Haftstrafen. Das russische Ermittlungskomitee hat schon ein neues Strafverfahren gegen ihn eröffnet: Er habe als Chef der Antikorruptionsstiftung FBK umgerechnet vier Millionen Euro Spendengelder für persönliche Zwecke entfremdet. Nawalny drohen wegen schwerem Betrug noch zehn Jahre Haft.