Der böse Bauparagraf
Der Flächenfraß hat vor allem durch Neubaugebiete wieder zugenommen – Naturschutzverbände machen dafür ein Gesetz verantwortlich
BAINDT
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- Die ehemalige Klosterkirche der Zisterzienserinnen ist sicher ein Schmuckstück von Baindt. Ansonsten kommt die im mittleren Schussental gelegene kleine oberschwäbische Gemeinde eher unscheinbar daher. Ein Dorf, geprägt von Neubausiedlungen der vergangenen 60, 70 Jahre. So etwas findet sich oft. Doch Baindt dient dem Landesnaturschutzverband Baden-Württemberg gegenwärtig als Beispiel, wie es Orte gerade jüngst mit einer weiter um sich greifenden Bebauung übertreiben können. Stichwort Flächenfraß, das Verhunzen und Zubetonieren immer weiterer Landschaftsteile. „Baindt wächst und wächst. Der Ort dehnt sich immer weiter“, sagt fast schon empört Gerhard Maluck, ein in der Gegend lebender Vertreter des Landesnaturschutzverbandes, nun Pensionist, früher als Förster tätig.
Er führt rund um Baindt herum, zuerst zum Baugebiet Geigensack mit seinen bereits weitgehend fertigen, strahlend weißen Einfamilienhäusern. Dann zeigt Maluck mehrmals grüne Wiesen, auf die demnächst Bagger rollen sollen. Insgesamt sind es sechs Baugebiete. Zwar muss ein solches Ortswachstum nicht automatisch als negativ begriffen werden. „Aber in Baindt“, glaubt Maluck, „ist es schon etwas Besonderes.“
In diesem Fall geht es vor allem um den Paragrafen 13b des Baugesetzbuches. In der Naturschutzszene gilt er wahlweise als rotes Tuch oder Teufelszeug. Das Juristenwerk hat Kommunen nämlich ermöglicht, Bebauungspläne für kleinere Flächen am Ortsrand ohne formelle Umweltprüfung und ökologische Ausgleichsmaßnahmen auszuweisen. Betonieren muss also nicht durch neue Gebiete für Flora und Fauna abgebüßt werden. Zudem reduziert der Paragraf die Bürgerbeteiligung.
Bei vier seiner sechs Baugebiete hat Baindt laut Gemeindeinformationen auf 13b zurückgegriffen. „Es wäre aber auch ohne gegangen“, betont die parteilose Bürgermeisterin Simone Rürup. Jedoch ist der Paragraf kommod, eben weil das Planen und Ausweisen von Baugebieten vereinfacht wird. Beschleunigtes Verfahren nennt sich dies. Das war auch die Grundidee, als der Paragraf 2017 in Kraft trat. Eigentlich sollte er dazu dienen, kurzfristig ohne allzu großen bürokratischen Aufwand die Wohnungsnot zu bekämpfen. Sie war nach der verstärkten Flüchtlingszuwanderung ab 2015 nochmals gewachsen. Ökoverbände glauben aber in der Zwischenzeit, dass 13b einer der Gründe ist, weshalb Baden-Württemberg seinen Flächenverbrauch trotz grün geführter
Landesregierung nicht in den Griff bekommt. Immerhin wurden nach Angaben aus dem Wirtschaftsministerium in Stuttgart über 860 Bebauungsplanverfahren nach 13b eingeleitet. Dahinter verstecken sich 475 Städte und Gemeinden. Das sind wiederum 40 Prozent aller badenwürttembergischen Kommunen.
Von „Flächenfraß-Paragraf“redet regelmäßig Gerhard Bronner, wenn er auf 13b zu sprechen kommt. Der Vorsitzende des Landesnaturschutzverbandes meint, es seien nach Belieben neue Baugebiete geschaffen worden – selbst dort, wo keine Wohnungsnot herrsche. Der unterschwellige Vorwurf: Mancher Ort habe allein für ein selbstsüchtiges Wachstum Landschaft zerstört.
Dabei sollten im Land aber täglich höchstens noch drei Hektar versiegelt werden. So sieht es die Regierung vor. Tatsächlich sind es im Schnitt fünf Hektar Boden. Tendenz leicht steigend, wie die Statistik im vergangenen Jahr ergab. Weit über die Hälfte der Fläche dient dem Wohnungsbau. 2020 waren dies knapp 1200 Hektar. Mit weitem Abstand folgen Straßen und Gewerbegebiete.
Nun wehrt sich Baindts kommunales Oberhaupt Rürup energisch dagegen, ihre Gemeinde habe auf Teufel komm raus Baugebiete ausweisen wollen. Sie selbst sehe das Problem mit dem Flächenfraß höchst kritisch. Rürup verweist aber auch darauf, dass „der Druck auf Wohnraum im Schussental groß ist“.
Das ist aber eben nicht nur dort im Herzen Oberschwabens der Fall. Selbst in legendär abseits gelegenen Winkeln der Schwäbischen Alb wollen plötzlich wieder Menschen zuziehen. Etwa ins mittlere Laucherttal bei Hettingen, einst eine Gemeinde mit sinkender Bevölkerungszahl.
Die alte Garnisonsstadt Münsingen mit ihrem Truppenübungsplatz hat nach dem Abzug des Militärs eine Wiederbelebung durch Zuzüge aus Industrieregionen nördlich des Albtraufs und der Ulmer Gegend erfahren. Wohnen ist dort günstiger als etwa in Reutlingen – selbst im Einfamilienhaus. Inzwischen wirkt die Münsinger Altstadt mit ihrem altwürttembergischen Schlösslein nur noch wie ein Stecknadelkopf inmitten von Neubau-Ringen.
Dass Wohnraum fehlt, gilt längst als Binsenweisheit und wird quer durch die Politik anerkannt. Nur die Instrumente für sein Herbeischaffen sind umstritten. Die schwarz-rote Koalition in Berlin findet den Paragrafen 13b beispielsweise gut. Er stammt schließlich von ihr. Nur war 13b auf zwei Jahre befristet und ist Ende 2019 ausgelaufen. Aber gemach. Nach Willen der Regierung Merkel soll es einen Ersatz geben: das Baulandmobilisierungsgesetz. Nach einer ersten Lesung im Bundestag liegt es jetzt im Bauausschuss. Mit eingebunden in den Gesetzentwurf: eine Neuauflage des Paragrafen 13b bis Ende 2022.
Die einen freut dies – so die bisherige baden-württembergische Wirtschaftsund Bauministerin Nicole HoffmeisterKraut. „Es hat sich gezeigt, dass dieses Instrument einen wichtigen Beitrag dazu leistet, schnell dringend benötigten Wohnraum zu schaffen“, berichtet die Christdemokratin. Aufseiten der Umweltschützer steigert sich erwartbar der Ärger. Dies hat auch damit zu tun, was nach ihren Beobachtungen auf den Bauflächen emporwächst.
„Ganz überwiegend werden im
Rahmen von Paragraf 13b Bauweisen realisiert, die nicht den Wohnungsbedarf finanziell Schwächerer bedienen (Geschosswohnungsbau), sondern die Nachfrage Gutsituierter nach repräsentativen Einfamilienhäusern“, schreibt der Landesnaturschutzverband im Internet. Vereinfacht ausgedrückt: raumgreifende Einfamilienhäuser statt platzsparend in die Höhe gebauter Wohnblocks mit preiswerten Wohnungen.
Die Diskussion darüber ist erst vor wenigen Wochen wieder bundesweit hochgekocht. Ausgelöst hatte sie Anton Hofreiter in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“. Der männliche Part der grünen Doppelfraktionsspitze im Bundestag erinnerte daran, ein Bezirk der einstigen Hansestadt Hamburg habe sich wegen dramatischer Wohnungsnot gegen neue Einfamilienhäuser entschieden. Es sei darum gegangen, Wohnraum für viele statt für wenige Menschen zu schaffen. Besitzer von Einfamilienhäuser fühlten sich getroffen. Ebenso jene, die es noch werden wollen. Dazu noch das bürgerliche Politik-Etablissement.
Simone Rürup, Bürgermeisterin von Baindt
Die Führung der Grünen versuchte rasch, das Thema kleinzureden – zumal die Partei laut Wählerstudien inzwischen genug Unterstützer im Bereich gut situierter Einfamilienhausbesitzer hat. Doch das Thema ist längst virulent. Dies heißt nicht, dass keine Viertel mehr mit ausgedehnten Gärten und ambitionierten Einfamilienhäusern entstehen. Unterschneidheim, eine sehr ländlich geprägte Gemeinde im Ostalbkreis östlich von Ellwangen, hat sich beispielsweise jüngst noch ein solches Neubaugebiet gegönnt. Doch so etwas wirkt fast wie aus der Zeit gefallen.
Im oberschwäbischen Baindt wird hingegen laut Bürgermeisterin Rürup bereits an einer Wende gearbeitet: „Baugebiete nur mit Einfamilienhäusern sind nicht die Zukunft“, schätzt sie. Wo es noch geht, soll deshalb der Platz fürs individuelle Wohnen schrumpfen. Eines der sechs Baindter Baugebiete preist Rürup im Weiteren als klassisches Beispiel einer Innenverdichtung, also dem landschaftsschonenden Schließen von Baulücken. Es handelt sich um eine kleine, von alten Obstbäumen bestandene Parzelle zwischen Ortsmitte und einem Supermarkt. Die Idee: Bauen in einer Baugemeinschaft. Private Bauherren sollen sich über Mehrfamilienhäuser einig werden. „Wir wollen Wohnraum für mehr als 200 Menschen schaffen“, berichtet Rürup.
Das innerörtliche Potenzial für neuen Wohnraum scheint in Baindt aber eher begrenzt zu sein. Da bieten andere Kommunen sichtbar mehr. Ulfried Miller, Regionalgeschäftsführer des BUND für den Bodensee und Oberschwaben, gibt hierzu einen Tipp: Altshausen, nur 20 Kilometer von Baindt entfernt. Er hätte ebenso andere Kommunen nennen können. Mit Altshausen fühlt sich Miller aber verbunden. Es ist sein Geburtsort.
Geprägt wird er vom ehemaligen Deutschordensschloss, in der Gegenwart Sitz des Hochadelsgeschlechts der Württemberger. Abseits des hochherrschaftlichen Glanzes lässt sich jedoch auch weniger Schönes entdecken: „Leerstände“, beklagt Miller. „Vor allem nicht mehr bewohnte Altbauten – Häuser, die eigentlich für neuen Wohnraum genützt werden könnten.“Selbst als Ortsfremdem fallen einem solche Gebäude ins Auge – gerade an der zentralen Hindenburgstraße.
Eines davon ist das ehemalige Wirtshaus Nebelhöhle. Miller erinnert sich noch daran, als hier Betrieb war: „Da habe ich für meinen Vater Bier geholt.“Seit Jahrzehnten ist es aber zu, das einst grünlich gestrichene Gebäude zerfällt. „Ein Schandfleck“, heißt es auf der Straße. Immerhin scheint sich hier aber etwas zu tun, wie Bürgermeister Patrick Bauser sagt: „Es gibt inzwischen ein Baugesuch des Eigentümers. Wohnraum für sechs Familien soll entstehen.“
Der parteilose Bauser unterstreicht, dass seine Gemeinde auf Besitzer leer stehender Häuser oder auch unbebauter Grundstücke im Ort zugehe, um sie zum Handeln zu bewegen. Nach seinen Worten spielt dabei neben dem Schaffen von Wohnraum auch die Angst eine Rolle, ansonsten irgendwann einen teilweise absterbenden Ortskern zu bekommen. Leider sei aber nicht jedes Vorfühlen von Erfolg gekrönt.
Der Bürgermeister nennt ein heruntergekommenes Anwesen mit blinden Fensterscheiben unweit der Nebelhöhle: offenbar einst ein Wohnhaus samt Laden. „Es gehört jedoch einer Erbengemeinschaft. Die will weder investieren noch verkaufen“, erklärt Bauser. Bevor nicht herabfallende Teile Passanten bedrohten, könne man als Kommune da nichts machen. Das Eigentumsrecht sei zu stark.
Dagegen vorzugehen, scheint heikel. Tübingens streitlustiger Oberbürgermeister Boris Palmer hat bereits 2019 einen entsprechenden Anlauf unternommen. Der Grüne drohte Grundstücksbesitzern, die nicht bauen wollen, mit Zwang bis hin zur Enteignung. Diese schlugen Alarm. Rechtsgutachten des Bundes stuften Palmers Idee als höchst kritisch ein. Weshalb der Städtetag die Bürgermeister davor abriet, ihn nachzuahmen.
Als Alternative nennt der Kommunalbund finanzielle Anreize für Bauunwillige. Ein Gedanke, den der BUND und andere Naturschutzverbände gerne aufgegriffen haben. Sie liebäugeln mit einer höheren Besteuerung für brach liegendes Bauland. Gleichzeitig kommen sie immer wieder auf den Paragrafen 13b zurück. Er verhindere eben „den Vorrang der Innenentwicklung vor der Außenentwicklung“. Womit angedeutet werden soll, dass Kommunen im Zweifelsfall doch lieber eine Wiese am Ortsrand bebauen als eine Brache innerorts.
Als sicher kann zumindest gelten, dass sich außerhalb meist großzügiger planen lässt. Fürs Wohnen hat dies einen gewissen Charme. Ein weiterer Flächenfraß begünstigender Umstand gehört nämlich auch mit zur Diskussion: Gemäß der Statistik wohnte ein Deutscher 1991 im Schnitt auf 35 Quadratmetern. 2019 waren es schon 47 Quadratmeter. Der Platz muss ja irgendwo herkommen.
„Baugebiete nur mit Einfamilienhäusern sind nicht die Zukunft.“