Löws EM-Roulette
Bundestrainer zockt mit Personal und Systemen – Noch viele Sorgen vor dem EM-Start
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SEEFELD (dpa) - Entspannt radelte Joachim Löw am Feiertag in Tirol mit einem schicken E-Mountainbike durchs Seefelder Gelände. Er hielt sogar für ein Selfie mit einem Urlauber an – natürlich mit Abstand. Nach „Licht und auch Schatten“beim 1:1 gegen Dänemark suchte auch der Bundestrainer am Regenerationstag des Fußball-Nationalteams bei Sonnenschein ein wenig Zerstreuung und Ablenkung in der Natur.
Auch das Casino ist in Seefeld nach der langen Corona-Schließung wieder geöffnet. Aber Löw muss sein Glück dort nicht versuchen. Er spielt lieber sein eigenes EM-Roulette und setzt dabei alles auf die 5 (Mats Hummels), die 25 (Thomas Müller) sowie die 3 in der Abwehr. Der 61-Jährige zockt vor seiner letzten Turniermission mit Systemen und Personal. Schon der Probelauf in Innsbruck am Mittwochabend offenbarte allerdings, dass viel Glück nötig sein wird, damit der ewige Jogi den DFB nach 15 Jahren als Chefcoach mit einem großen Gewinn verlässt.
Von einem „Rückschlag“mochte Löw nach dem nächsten verspielten Sieg nicht sprechen, „etwas holprig“nannte er den Test. Die Stimmungslage im DFB-Tross pendelte irgendwo zwischen Ermutigung (ordentliche Leistung) und Enttäuschung (Ergebnis). Rückkehrer Müller brachte es
mit seinem Versprecher auf den Punkt. „Am Ende ist es echt ärgerlich, dass wir das Spiel verlieren“, sagte er nach dem Abpfiff.
Verlieren? Müller lag damit falsch, aber das 1:1 fühlte sich für die Nationalspieler und auch die in der Spitze über sieben Millionen TV-Zuschauer halt wie eine Niederlage an. Die Fans hatten keine zwei Wochen vor dem Ernstfall gegen Gruppenfavorit Frankreich am 15. Juni in München auf einen echten EM-Schub gehofft. Stattdessen sahen sie die x-te Wiederholung eines immer gleichen Fußballfilms: Torchancen ausgelassen, Führung verschenkt, Frust mitgenommen. Löw beklagte das bekannte Problem, „dass wir uns häufig nicht entscheidend belohnen“. Es geht schleppend voran.
Es gab im Tivoli Stadion trotzdem auch Ermutigendes. „Wir haben viel
Gutes gesehen“, meinte der erschöpfte Müller nach seinem Comeback. Eine positive Erkenntnis war: Die Rückholaktion von Müller und Hummels kann dem Team einiges geben, auch wenn dem Dauerantreiber des FC Bayern und dem Dortmunder Abwehr-Routinier keine Wunderdinge gelangen. Löw attestierte Müller und Hummels „ein gutes Spiel“. Er betonte die positiven Veränderungen durch das Weltmeisterduo von 2014. „Verbessert waren die Kommunikation auf dem Platz, die Kommandos und Anweisungen. Das war sehr positiv“, bemerkte Löw.
Ein Streitthema bleibt die Systemfrage. Löws taktische Antwort auf die Franzosen mit ihrer gewaltigen Offensivkraft und Einzelkönnern wie Kylian Mbappé oder Antoine Griezmann heißt Safety first. „Maß aller Dinge wird sein, dass wir in der Lage sind, zu null zu spielen und einen Vorsprung mal über die Runden zu bekommen“, sagte Löw. Seine Systemlösung für dieses übergeordnete Ziel ist die Dreierkette. „Für mich ist entscheidend, dass die letzte Reihe gut steht“, sagte er. Das Trio Ginter, Süle, Hummels ließ kaum etwas zu, bis auf das ärgerliche 1:1 durch den Leipziger Angreifer Yussuf Poulsen.
Löw opfert für die Dreierkette freilich qualitative und auch quantitative Gestaltungskraft im zentralen Mittelfeld, in dem Torschütze Florian Neuhaus für sich werben konnte. In der Zentrale und in der Offensive hat Löw eine große Auswahl an hochwertigen Fachkräften. Er schöpft sie bei der Dreierkette aber nicht annähernd aus. Ein Kernproblem bleibt freilich unabhängig vom Spielsystem und auch mit Müllers Rückkehr die mangelhafte Effizienz. 16 Schüsse, zweimal Aluminium – aber wieder nur ein Tor. „Wir arbeiten uns eine Vielzahl von Chancen raus, belohnen uns aber nicht entscheidend“, klagte Löw und kündigte an: „Es wird ein Thema sein, wie wir die Dinge konsequent zu Ende spielen können. Das Problem haben wir.“
Abhilfe könnten die ChampionsLeague-Finalisten Kai Havertz, Timo Werner und Ilkay Gündogan schaffen, die am Donnerstagabend wie Abwehrchef Antonio Rüdiger zum DFBTross stießen. Die England-Legionäre könnten Löws entscheidender Stich am Spieltisch sein, an dessen Ende der EM-Pokal als Hauptgewinn wartet.