Jeder darf, kaum einer kann
Am Montag fällt die Impfpriorisierung – Südwesten braucht Serum für Zweitimpfung
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STUTTGART - Ab Montag kann sich jeder impfen lassen? Theoretisch schon, denn dann hebt der Bund die Priorisierung für Impfstoffe auf. Baden-Württemberg hat hierzu bereits Erfahrungen gesammelt: SüdwestÄrzte müssen sich bereits nicht mehr an die Reihenfolge halten. Die generelle Lockerung birgt laut Experten ein großes Problem: Sie weckt Erwartungen, die nicht gehalten werden können. Denn der Impfstoff bleibt knapp und wird zunächst vorwiegend für Zweitimpfungen benötigt.
Erst die gute Nachricht: „Mittlerweile haben in Baden-Württemberg über 42 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Erstimpfung erhalten, von den Menschen über 60 Jahren sind bereits 76,6 Prozent geimpft“, erklärt Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne). In Zahlen seien dies 4,2 Millionen Menschen. Er beschreibt die Impfkampagne im Land als Erfolg, der auch an den massiv gesunkenen Todeszahlen abzulesen sei. Hierfür sei es wichtig gewesen, durch eine Priorisierung zunächst diejenigen zu schützen, die besonders anfällig für schwere Covid-19-Erkrankungen sind – also vor allem Ältere und Vorerkrankte. „Dadurch wurden die Leben von vielen Menschen gerettet“, so Lucha.
Für etliche Baden-Württemberger klingen solche Erfolgsmeldungen indes wie Hohn. Ein Leser der „Schwäbischen Zeitung“drückt dies Ende Mai in einer E-Mail an die Redaktion so aus: „Meine Frau und ich gehören beide zu den Risikopatienten der Prio-Stufe 2. Wir versuchen seit vielen Wochen erfolglos, einen Impftermin zu bekommen.“Der 55Jährige aus Friedrichshafen fasst seine Erfahrungen so zusammen: „Das Verfahren in BW ist schlicht eine Katastrophe.“Was das Gesundheitsministerium nämlich nicht sagen kann, ist: Wie viele Menschen sind denn aktuell überhaupt impfberechtigt? Neben dem Alter spielen auch andere Faktoren eine Rolle: Bestimmte Berufsgruppen, etwa im Lebensmitteleinzelhandel, gehören ebenso zu den Berechtigten der Priorisierungsgruppen 1 bis 3 wie junge Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen und Kontaktpersonen von Schwangeren und Pflegebedürftigen.
Rückblickend stellt auch Lucha fest, dass Baden-Württemberg nicht das beste System zur Terminvergabe gewählt hat. Wer einen Termin will, ruft bei einer überlasteten Hotline an oder klickt sich durch die OnlineTerminvergabe der Impfzentren. Das sei „schlicht und einfach das falsche System, um einen Mangel gut verwalten zu können“, so Lucha. Das System sei auf Impfstofflieferungen in viel größeren Mengen ausgelegt – dann hätte es auch funktioniert. Zwar hat das Land nachgesteuert und zumindest betagte Menschen für einen Impftermin zurückgerufen, wenn sie sich einmal bis zum CallCenter-Mitarbeiter durchgekämpft hatten. Für andere, wie den Leser aus Friedrichshafen, gibt es einen solchen Service aber nicht.
Ein Vorwurf, den sich Lucha auch immer wieder anhören muss: Im Gegensatz zu anderen Bundesländern wurden im Südwesten die Vakzine gleichmäßig auf alle Impfzentren verteilt und den Bürgern die Wahl des Impfzentrums überlassen. Manche Menschen fahren 100 Kilometer durchs Land, weil sie in der Ferne und nicht vor Ort einen Termin ergattern konnten. Diese Entscheidung sei im Herbst gemeinsam mit den Kommunen getroffen worden, erklärt Lucha. „Darauf war und ist das System ausgelegt: große Mengen von Impfstoff innerhalb kürzester Zeit an viele Menschen zu verimpfen. Leider kam es dann anders“, erklärt er und schiebt damit den Schwarzen Peter Richtung Bund. Doch auch hier hat
Lucha nachgesteuert. „Bei der Verteilung der Impfdosen spielen nun etwa auch Kriterien wie die Bevölkerungszahl oder die Impfquote eine Rolle.“Letztere veröffentlicht sein Ministerium seit Kurzem.
Neben Bayern hat auch BadenWürttemberg Mitte Mai die Impfpriorisierung in Arztpraxen aufgehoben. Auf Bundesebene gibt es gerade auch vonseiten der Ärzteschaft viel Kritik daran – ihre Praxen würden überflutet von Anrufern. Auf Landesebene sprechen Lucha, die Hausärzte und die Kassenärztliche Vereinigung (KVBW) hingegen von einem richtigen Schritt. „Die Priorisierung war vorher schon so weit aufgeweicht, dass von einer scharfen Auswahl keine Rede mehr sein konnte“, sagt etwa KVBW-Sprecher Kai Sonntag. Der Biberacher Allgemeinmediziner Frank-Dieter Braun bestätigt das. „Da gibt es junge Menschen, die angeblich die Oma in Hamburg regelmäßig pflegen müssen, oder auch Schwangere, die acht Kontaktpersonen
angeben.“Eine Kontrolle solcher Impfberechtigung sei kaum möglich. Und das Praxistelefon klingele ohnehin dauernd, so der Vizevorsitzende des Landeshausärzteverbands. „Ich bin froh, dass man jetzt sagt, jeder Mensch bekommt eine Impfung. Gerechtigkeit sieht eh anders aus“, so Braun. 330 Impfwillige habe er aktuell auf seiner Warteliste – hoch priorisierte und über 60-Jährige seien kaum mehr darunter.
Wenn nun ab Montag die Priorisierung auch in den Impfzentren fällt, wird sich die Konkurrenz um die knappen Vakzine weiter verschärfen. Dass die Liefermengen absehbar hinter den Erwartungen zurückbleiben werden, nennt Lucha als Hauptproblem. Das Ulmer Impfzentrum hat bereits eine Konsequenz gezogen: Statt zwei Hallen betreibt es künftig nur eine, erklärt Betriebsleiter Hagen Feucht. Dass die Priorisierung entfällt, sieht er kritisch. „Man darf schon die Frage stellen, wie ernst ein Angebot gemeint ist, wenn diesem Angebot keine Ware gegenübersteht.“Der Mangel in Zahlen: Ab Montag spricht Feucht von 1800 Impfungen im Zentrum plus weiteren 800 durch mobile Impfteams pro Tag. „Das ist ziemlich genau die Hälfte dessen, was wir könnten“, sagt er. Die mobilen Teams kümmerten sich ausschließlich um Zweitimpfungen, im Zentrum seien 1500 Dosen hierfür reserviert. Das heißt: Lediglich 300 Menschen bekommen im Ulmer Impfzentrum dann pro Tag den ersten Piks. „Das ist deprimierend“, sagt Feucht. Eine Besserung erwartet er frühestens für Mitte Juli.
Ähnlich äußert sich Bernhard Flad, Leiter des Tuttlinger Impfzentrums. „Die Priorisierung wird aufgehoben und im gleichen Zug sinkt die Zahl der zur Verfügung stehenden Ersttermine.“Für diese blieben dann nur noch 20 Prozent der Impfdosen. Ein möglicher Vorteil: „Wir können es nicht nachprüfen, ob eine Oma zwei Berechtigungsscheine ausstellt oder vier. Vielleicht ist es gerechter und ehrlicher, die Priorisierung aufzuheben. Dann muss niemand mehr tricksen.“
Der Leser aus Friedrichshafen und seine Frau hatten inzwischen bei der Online-Terminsuche Glück. Für viele Bürger, die dank des Wegfalls der Priorisierung auf den schnellen Piks hoffen, wird indes der Frust ab Montag wachsen – zumal dann auch Betriebsärzte und Jugendliche ab zwölf Jahren in die Konkurrenz um die Vakzine einsteigen, wie Hagen Feucht aus Ulm sagt. So mahnt auch Minister Lucha zu Geduld: „Ein Ende der Priorisierung bedeutet nicht, dass jede und jeder direkt einen Termin buchen kann.“Ziel sei es, noch im Sommer jedem ab zwölf Jahren ein Impfangebot machen zu können. Der Sommer endet am 22. September.