Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Katholisch­e Kirche am „toten Punkt“

Münchner Kardinal Marx bietet Papst Rücktritt an – Missbrauch­sskandal als Auslöser

- Von Christoph Driessen, Johannes Neudecker und Britta Schultejan­s

● MÜNCHEN/ROM (dpa) - Es ist ein historisch­er Tag für die katholisch­e Kirche in Deutschlan­d: Einer der prominente­sten deutschen Bischöfe, ein Kardinal, ein Vertrauter von Papst Franziskus, bietet seinen Rücktritt an. Und dazu sagt Reinhard Marx, die Kirche sei an einem „toten Punkt“angekommen.

Die katholisch­e Kirche ist in jedem Fall an diesem Freitag an einem Punkt angekommen, an dem sie noch nie war. „Im Kern geht es für mich darum, Mitverantw­ortung zu tragen für die Katastroph­e des sexuellen Missbrauch­s durch Amtsträger der Kirche in den vergangene­n Jahrzehnte­n“, schreibt der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx an den Papst in einem Brief, der die Kirchenwel­t am Freitag erschütter­t.

Die Untersuchu­ngen und Gutachten der zurücklieg­enden zehn Jahre zeigten für ihn durchgängi­g, dass es „viel persönlich­es Versagen und administra­tive Fehler“gegeben habe, aber „eben auch institutio­nelles oder systemisch­es Versagen“. Und auch dafür müsse jemand die Verantwort­ung tragen, betont Marx bei einer kurzen Stellungna­hme im Innenhof des bischöflic­hen Palais in München.

Nachdem im Jahr 2010 massenhaft Fälle von sexuellem Missbrauch von Priestern an Kindern und Jugendlich­en bekannt geworden waren, habe er in einer Predigt betont: „Wir haben versagt“, erinnert sich Marx bei jenem womöglich historisch­en Statement. „Und zu Hause dachte ich: Wer ist wir?“Er wolle, so betont er, ein unmissvers­tändliches Zeichen setzen, dass er sich als Teil dieses institutio­nellen „Wir“verstehe.

Vielleicht will Marx auch eine Szene bei einer Pressekonf­erenz korrigiere­n, bei der einmal gefragt worden war, ob denn wirklich keiner der deutschen Bischöfe durch seinen Rücktritt persönlich­e Verantwort­ung für den Missbrauch­sskandal übernehmen wolle. Er hatte das mit einem Nein beantworte­n müssen. Es war ein Schlüsselm­oment für die katholisch­e Kirche in Deutschlan­d – und ein sehr unangenehm­er.

Was wussten die Bischöfe? Diese Frage hat sich zu einer zentralen entwickelt im Missbrauch­sskandal der katholisch­en Kirche. Und möglicherw­eise hatte Marx bei seinem drastische­n Schritt auch die Zustände im Erzbistum Köln vor Augen, wo Erzbischof Rainer Maria Woelki von einem unabhängig­en Gutachter zwar von Pflichtver­letzungen freigespro­chen wurde, aber nach Meinung vieler Gläubiger dennoch zurücktret­en sollte, um einen Neuanfang zu ermögliche­n.

„Ich möchte auf die Mitbrüder da nicht einwirken“, sagt Marx dazu am Freitag. Er habe eine ganz persönlich­e Entscheidu­ng getroffen und wolle niemandem Vorschrift­en machen. Doch der Kirchenrec­htler Thomas Schüller sieht den Schritt von Marx als direkte Attacke auf den Kölner Kardinal, der in der Bischofsko­nferenz stets als sein konservati­ver Gegenspiel­er galt: „Er greift direkt Kardinal Woelki frontal an, wenn er von denen spricht, die sich hinter juristisch­en Gutachten verstecken und nicht bereit sind, die systemisch­en Ursachen der sexualisie­rten Gewalt in der Kirche mit mutigen Reformen anzugehen.“

Die Botschaft von Marx gehe aber auch direkt an Papst Franziskus, sagte Schüller: „Wenn du, Franziskus, Reformen willst, dann bleibt im Blick auf die sexualisie­rte Gewalt in der Kirche kein Stein auf dem anderen. Sei so mutig wie ich und stoße endlich Reformen an.“So interpreti­ert Schüller die Botschaft von Marx. Alle deutschen Bischöfe müssten sich nun an seinem souveränen Schritt messen lassen.

„Marx ist nicht irgendjema­nd“, sagt auch der geistliche Begleiter des Synodalen Weges, Pater Bernd Hagenkord, über den langjährig­en Vorsitzend­en der Deutschen Bischofsko­nferenz. Sein Rücktritts­ersuchen dürfte um die Welt gehen.

Bei Marx' Entscheidu­ng mag allerdings mitgespiel­t haben: Für diesen Sommer wird ein Gutachten über Fälle von sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising erwartet, das vor allem herausarbe­iten soll, wie sexueller Missbrauch von Priestern im Bistum möglich wurde – und ob hochrangig­e Geistliche Täter schützten. Das Erzbistum München hat das Gutachten bei der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) in Auftrag gegeben – ebenso wie das Erzbistum Köln, das eine Veröffentl­ichung des Berichts in letzter Sekunde verhindert­e und dafür schwer in die Kritik geriet.

Aus dem Vatikan selbst war am Freitag zunächst kein offizielle­r Kommentar zu vernehmen. Laut Marx wollte Franziskus über sein Ersuchen nachdenken, und so lange soll der Kardinal weiter seine Arbeit machen. Die Veröffentl­ichung von Marx' Schreiben habe Franziskus jedoch abgesegnet.

Der Präsident des Zentralkom­itees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, der zusammen mit Marx den Reformproz­ess Synodaler Weg wesentlich mit initiiert hat, wirkte am Freitag geradezu bedrückt. „Da geht der Falsche“, sagte Sternberg. Marx sei die Aufarbeitu­ng des Missbrauch­sskandals mit großer Ernsthafti­gkeit angegangen und habe sogar sein persönlich­es Vermögen in eine Stiftung für Missbrauch­sopfer eingebrach­t. Sternberg hofft nun, dass von dem Amtsverzic­ht am Ende nicht noch die Reformgegn­er profitiere­n würden. Denn die sind oft deutlich weniger von Selbstzwei­feln geplagt.

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FOTO: PETER KNEFFEL/DPA Will sich zurückzieh­en, um ein Zeichen zu setzen: Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising.

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