Regimekritiker im Staatsfernsehen
Belarussischer Sender zeigt Interview mit inhaftiertem Blogger – Angehörige vermuten Folter
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MOSKAU - Knapp zwei Wochen nach seiner Festnahme in Belarus hat der Regierungskritiker Roman Protassewitsch in einem offenbar erzwungenen Geständnis eingeräumt, Massenproteste gegen Machthaber Alexander Lukaschenko organisiert zu haben. Der 26-Jährige äußerte in dem Interview im Staatsfernsehen sogar Bewunderung für Lukaschenko, den er bis dahin immer wieder kritisiert hatte. Die Opposition vermutet, dass Protassewitsch zu dem Auftritt genötigt worden sei. Die Bundesregierung und Großbritannien äußerten sich am Freitag ähnlich. Seine Mutter bezeichnete das Interview als Ergebnis von Folter.
Zwei Männer sitzen auf einer dunklen Bühne, der eine stellt kurze Fragen, der andere antwortet ausführlich, gefilmt von mehreren Kameras, mal lächelt er, mal ist er den Tränen nahe, seine Stimme zittert. „Meine Schuld an der Organisation nicht genehmigter Massenaktionen habe ich sofort und völlig gestanden … Ich will alles tun, um meine Fehler wiedergutzumachen …“Am Ende verbirgt er sein Gesicht hinter Händen, deren Gelenke aufgeschürft sind – offenbar von Handschellen.
Am Donnerstagabend veröffentlichte das belarussische Staatsfernsehen ein 90-minütiges Interview mit dem Oppositionsblogger Protassewitsch. Sein Fernsehauftritt wirkte wie eine Theateraufführung über die Schauprozesse in den 1930er-Jahren unter dem sowjetischen Diktator Josef Stalin.
Protassewitsch hatte vergangenen Herbst als Redakteur des aus Warschau arbeitenden Telegramkanals
Nexta die friedlichen Massenproteste in Belarus gegen den umstrittenen Staatschef Lukaschenko mit koordiniert. Jetzt versichert er vor laufender Kamera, er respektiere Lukaschenko bedingungslos, dieser habe eiserne Nerven. Den eigenen Mitstreitern aber unterstellt er, unter ihnen gäbe es nur Experten im Geldwaschen. Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja sei sich bewusst, dass die von ihr angestrebten Wirtschaftssanktionen gegen Belarus für ihre Landsleute Hunger bedeuten würden. Und Pawel Latuschko, der Leiter der Antikrisenverwaltung der Opposition, wohne in Warschau in einer Wohnung, die 3000 Euro im Monat koste.
Außerdem behauptet der 26-jährige Blogger, er selbst hätte bei einem im Mai geplanten Militärumsturz mit dem Ziel, Lukaschenko zu töten, der „Verbindungsmann“zwischen den Verschwörern und Tichanowskaja sein sollen. Abstruse Selbstbezichtigungen und Schuldzuweisungen an andere „Verräter“, die schon während Stalins „Großem Terror“1936 bis 1938 in den Verhörprotokollen nicht fehlen durften. „Stalin wollte, dass seine Gegner sich öffentlich mit Lügen selbst anklagten und dann erniedrigt in den Tod gingen“, sagt der Moskauer Historiker Nikita Petrow der „Schwäbischen Zeitung.“Lukaschenko agiere mindestens genauso zynisch.
Protassewitschs Vater Dmitri erklärte dem russischen Kanal TV Doschd, er sei sicher, dass sein Sohn zu seinen Aussagen gezwungen wurde. „Sie können ihn mit allem Möglichen erpressen, mit seinem eigenen Leben oder damit, dass in einer Nachbarzelle sein Mädchen sitzt“. Protassewitschs Freundin Sonja Sapega war mit ihm zusammen verhaftet worden. Swetlana Tichanowskaja sagte der Agentur Reuters, das Video sei mithilfe von Folter entstanden, die Aussagen des Opfers ohne jede Bedeutung. „Die Aufgabe eines politischen Häftlings ist es, zu überleben.“
Das Interview endet mit einem weinenden Protassewitsch. Nach einigen Minuten verkündet Moderator Marat Markow, tatsächlich habe man vier Stunden geredet, viele Namen und Fakten könne man erst nach dem Ende der Ermittlungen bekannt geben. Laut Protassewitschs Vater haben seine Anwälte weiter keinen Zugang zu ihm.
Welchen Druck Lukaschenkos Justiz auf ihre Gefangenen ausübt, demonstrierte am Dienstag Stepan Latypow, dem in Minsk als mutmaßlichem Organisator von Massenunruhen der Prozess gemacht wird. Er rammte sich im Gerichtssaal einen Kugelschreiber in den Hals und wurde schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Vor seinem Selbstmordversuch rief er seinem Vater zu, man habe ihm mit Strafverfahren und einem „Presshaus“für Verwandte und Nachbarn gedroht, einer Zelle mit gewalttätigen Psychopathen.
Historiker Petrow sagt, auch Protassewitschs Auftritt zeige, wie Lukaschenkos Regime Menschen unter Druck setze und zerbreche.