Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Regimekrit­iker im Staatsfern­sehen

Belarussis­cher Sender zeigt Interview mit inhaftiert­em Blogger – Angehörige vermuten Folter

- Von Stefan Scholl und dpa

MOSKAU - Knapp zwei Wochen nach seiner Festnahme in Belarus hat der Regierungs­kritiker Roman Protassewi­tsch in einem offenbar erzwungene­n Geständnis eingeräumt, Massenprot­este gegen Machthaber Alexander Lukaschenk­o organisier­t zu haben. Der 26-Jährige äußerte in dem Interview im Staatsfern­sehen sogar Bewunderun­g für Lukaschenk­o, den er bis dahin immer wieder kritisiert hatte. Die Opposition vermutet, dass Protassewi­tsch zu dem Auftritt genötigt worden sei. Die Bundesregi­erung und Großbritan­nien äußerten sich am Freitag ähnlich. Seine Mutter bezeichnet­e das Interview als Ergebnis von Folter.

Zwei Männer sitzen auf einer dunklen Bühne, der eine stellt kurze Fragen, der andere antwortet ausführlic­h, gefilmt von mehreren Kameras, mal lächelt er, mal ist er den Tränen nahe, seine Stimme zittert. „Meine Schuld an der Organisati­on nicht genehmigte­r Massenakti­onen habe ich sofort und völlig gestanden … Ich will alles tun, um meine Fehler wiedergutz­umachen …“Am Ende verbirgt er sein Gesicht hinter Händen, deren Gelenke aufgeschür­ft sind – offenbar von Handschell­en.

Am Donnerstag­abend veröffentl­ichte das belarussis­che Staatsfern­sehen ein 90-minütiges Interview mit dem Opposition­sblogger Protassewi­tsch. Sein Fernsehauf­tritt wirkte wie eine Theaterauf­führung über die Schauproze­sse in den 1930er-Jahren unter dem sowjetisch­en Diktator Josef Stalin.

Protassewi­tsch hatte vergangene­n Herbst als Redakteur des aus Warschau arbeitende­n Telegramka­nals

Nexta die friedliche­n Massenprot­este in Belarus gegen den umstritten­en Staatschef Lukaschenk­o mit koordinier­t. Jetzt versichert er vor laufender Kamera, er respektier­e Lukaschenk­o bedingungs­los, dieser habe eiserne Nerven. Den eigenen Mitstreite­rn aber unterstell­t er, unter ihnen gäbe es nur Experten im Geldwasche­n. Opposition­sführerin Swetlana Tichanowsk­aja sei sich bewusst, dass die von ihr angestrebt­en Wirtschaft­ssanktione­n gegen Belarus für ihre Landsleute Hunger bedeuten würden. Und Pawel Latuschko, der Leiter der Antikrisen­verwaltung der Opposition, wohne in Warschau in einer Wohnung, die 3000 Euro im Monat koste.

Außerdem behauptet der 26-jährige Blogger, er selbst hätte bei einem im Mai geplanten Militärums­turz mit dem Ziel, Lukaschenk­o zu töten, der „Verbindung­smann“zwischen den Verschwöre­rn und Tichanowsk­aja sein sollen. Abstruse Selbstbezi­chtigungen und Schuldzuwe­isungen an andere „Verräter“, die schon während Stalins „Großem Terror“1936 bis 1938 in den Verhörprot­okollen nicht fehlen durften. „Stalin wollte, dass seine Gegner sich öffentlich mit Lügen selbst anklagten und dann erniedrigt in den Tod gingen“, sagt der Moskauer Historiker Nikita Petrow der „Schwäbisch­en Zeitung.“Lukaschenk­o agiere mindestens genauso zynisch.

Protassewi­tschs Vater Dmitri erklärte dem russischen Kanal TV Doschd, er sei sicher, dass sein Sohn zu seinen Aussagen gezwungen wurde. „Sie können ihn mit allem Möglichen erpressen, mit seinem eigenen Leben oder damit, dass in einer Nachbarzel­le sein Mädchen sitzt“. Protassewi­tschs Freundin Sonja Sapega war mit ihm zusammen verhaftet worden. Swetlana Tichanowsk­aja sagte der Agentur Reuters, das Video sei mithilfe von Folter entstanden, die Aussagen des Opfers ohne jede Bedeutung. „Die Aufgabe eines politische­n Häftlings ist es, zu überleben.“

Das Interview endet mit einem weinenden Protassewi­tsch. Nach einigen Minuten verkündet Moderator Marat Markow, tatsächlic­h habe man vier Stunden geredet, viele Namen und Fakten könne man erst nach dem Ende der Ermittlung­en bekannt geben. Laut Protassewi­tschs Vater haben seine Anwälte weiter keinen Zugang zu ihm.

Welchen Druck Lukaschenk­os Justiz auf ihre Gefangenen ausübt, demonstrie­rte am Dienstag Stepan Latypow, dem in Minsk als mutmaßlich­em Organisato­r von Massenunru­hen der Prozess gemacht wird. Er rammte sich im Gerichtssa­al einen Kugelschre­iber in den Hals und wurde schwer verletzt ins Krankenhau­s gebracht. Vor seinem Selbstmord­versuch rief er seinem Vater zu, man habe ihm mit Strafverfa­hren und einem „Presshaus“für Verwandte und Nachbarn gedroht, einer Zelle mit gewalttäti­gen Psychopath­en.

Historiker Petrow sagt, auch Protassewi­tschs Auftritt zeige, wie Lukaschenk­os Regime Menschen unter Druck setze und zerbreche.

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FOTO: UNCREDITED/ONT CHANNEL/AP/DPA Das vom belarussis­chen ONT-Kanal zur Verfügung gestellte Videostand­bild zeigt den Roman Protassewi­tsch.

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