„Zum Jubiläum eine Million Tickets für 17,90 Euro“
Bahnchef Richard Lutz über die teure Modernisierung, Deutschlandtakt und das 30-Jahre-ICE-Angebot
BERLIN - Die Züge sind halbleer, und der Schuldenberg ist riesig. Trotzdem glaubt Bahnchef Richard Lutz an eine glänzende Zukunft der Bahn, wie er im Gespräch mit Wolfgang Mulke erläutert. Zum 30. Jahrestag der ersten Fahrt des ICE hat das Unternehmen für die Kunden ein Schnäppchen im Angebot.
Der ICE wird 30. Die Kritik am Hochgeschwindigkeitsverkehr ist verstummt. Ziehen Sie bitte mal eine kleine Bilanz des Flaggschiffs. Die Kritik ist verstummt, weil wir gleichzeitig das regionale Angebot gestärkt haben. Vom ICE profitieren nicht nur ein paar große Städte. Alles rückt näher zusammen. Viele Menschen können täglich zwischen Berlin und Wolfsburg oder zwischen Mannheim und Stuttgart pendeln – das würde ohne ICE und ohne Hochgeschwindigkeitsstrecken fast niemand machen. Wir sind daher froh, dass die ICE-Familie und das Streckennetz weiter wachsen.
Wie viele neue Strecken hätten Sie gerne noch?
Wenn die Fahrzeit auf unter vier Stunden sinkt, sind wir gegenüber innerdeutschen Flügen besonders attraktiv. Deshalb freue ich mich auf die Strecke Wendlingen–Ulm ab Dezember 2022. Zusammen mit Stuttgart 21 wird das ein Quantensprung für unsere Fahrgäste. Für Frankfurt– Mannheim und Frankfurt–Fulda laufen schon konkrete Planungen. Die sehr wichtige Neubaustrecke Hannover–Bielefeld ist allerdings noch in einem sehr frühen Stadium. Damit wird der Ost-West-Korridor schneller. Aber bedeutender als das Motto „schneller, höher, weiter“ist es, die Menschen in der Fläche an das Fernverkehrsnetz anzubinden. Da hilft uns der neue ICE 4, der 265 Kilometer pro Stunde fährt.
Steht der Plan noch, alle Städte über 100 000 Einwohner bis 2025 an den Fernverkehr anzubinden? Wir haben dieses Ziel 2015 ausgegeben – damals haben uns viele das nicht zugetraut. Mittlerweile haben wir mit dem Deutschlandtakt eine beeindruckende Übereinstimmung zwischen dem, was die Politik verkehrlich will, und dem, was wir als Unternehmen strategisch umsetzen. Wir schließen mit jedem Fahrplanwechsel neue, auch kleinere Städte an. Zum Beispiel mit der neuen ICLinie Dresden–Berlin–Rostock, die vor 18 Monaten ans Netz ging. Oder mit der neuen IC-Linie Frankfurt–Siegen–Münster–Norddeich ab Dezember dieses Jahres.
Wie lief das Pfingstgeschäft? Steigen die Fahrgäste wieder ein?
Wir hatten zuletzt trotz der Kontaktbeschränkungen viel Zuspruch. Man spürt, dass die Menschen raus wollen, wenn die Möglichkeit dazu besteht. Mobilität ist eines der Grundbedürfnisse der Menschen. Wir werden auch 2021 – wie im Vorjahr – wieder einen Sommer mit vielen Reisenden sehen. Die Vorfreude darauf ist überall bei der DB zu spüren.
Kommen die Geschäftsreisenden auch zurück?
Ich bin zuversichtlich, dass sich auch im geschäftlichen Umfeld die Menschen wieder persönlich treffen wollen. Bald wird es wieder Messen und Kongresse geben. Und dann werden sich viele Geschäftsreisende überlegen, ob sie mit dem Flugzeug oder der Bahn anreisen. Da ist der Trend zum klimafreundlichen Reisen eindeutig auf unserer Seite.
Der Nahverkehr leidet auch unter massiven Einbrüchen. Was muss geschehen, damit mehr Pendler vom Auto auf den öffentlichen Verkehr umgeleitet werden?
Ich habe den Eindruck, dass die Metropolen in den vergangenen 15, 20 Jahren den Zuzug in die Städte und das Umland unterschätzt haben. Heute gibt es für die großen Ballungsräume überall Pläne, die Nahverkehrssysteme auszubauen und für die Menschen attraktiver zu machen. Das ist der richtige Weg, auch wenn das nicht über Nacht geht. Wir dürfen aber nicht nur über Metropolen reden – wir brauchen auch die Fläche. Niemand auf dem Land darf sich abgehängt fühlen. Auch deshalb ist eine intelligente Vernetzung der Verkehrsträger so wichtig. Bei attraktiven Mobilitätsangeboten, die jederzeit und überall genutzt werden können, wird der eigene Pkw für viele überflüssig. Das gilt gerade für die junge Generation.
Die Bahn soll billiger und attraktiver werden, um dem Flugverkehr und dem Auto Paroli bieten zu können. Ist das wirtschaftlich realistisch?
Zum Jubiläum des ICE werden wir vom 5. bis zum 14. Juni eine Million zusätzliche Tickets für 17,90 Euro anbieten. Sie gelten für Reisen in den kommenden sechs Monaten. Da müssen wir uns nicht verstecken. Das wird sicherlich nicht nur die junge Generation interessant finden. Übrigens: Wir sind mit unseren Preissteigerungen in den vergangenen Jahren stets unter der Inflationsrate geblieben. Und im Jahr 2020 konnten wir durch die Mehrwertsteuersenkung für Fahrten des Fernverkehrs die Preise zudem um beträchtliche zehn Prozent senken. Davon
können andere Verkehrsträger nur träumen.
Wie läuft dieses Jahr denn wirtschaftlich für die Bahn?
Wie viele andere Mobilitätsunternehmen auch leiden wir darunter, dass die Pandemie länger dauert und die Erholung später kommt als erwartet. Kurzfristig sind unsere Einbußen höher als prognostiziert. Aber langfristig mache ich mir keine Sorgen, auch weil der Pfingstverkehr rege war und seither die Buchungszahlen deutlich anziehen. Unsere Güterverkehrssparte erweist sich als ausgesprochen stabil und DB Schenker entwickelt sich ausgezeichnet. Kurzum: Auf lange Sicht sprechen alle Megatrends für die klimafreundliche Bahn.
Wie viele Milliarden wird denn eine moderne Bahn den Steuerzahler noch kosten?
Die alte Bundesbahn hat drei Milliarden Euro im Jahr investiert. Bis 2030 erwarten wir pro Jahr im Schnitt rund das Fünffache. Wir müssen investieren, modernisieren und rekrutieren, um das Eisenbahnsystem fit für Wachstum und Verkehrsverlagerung zu machen. Und um unseren Beitrag für Klima und Umwelt zu leisten. Eine grüne Zukunft ist im Moment wichtiger als eine schwarze Null.
Könnte die Bahn angesichts der sich verschärfenden Klimaprobleme nicht vorzeitig aus der Kohle aussteigen?
Wir sind und bleiben Vorreiter in Sachen Klimaschutz und Ökostrom. Schon heute haben wir über 60 Prozent Ökostromanteil, 2030 werden es 80 Prozent sein. Einseitig aus bestehenden Verträgen auszusteigen, würde uns Milliarden kosten. Dieses Geld ist viel besser angelegt in den zahlreichen Maßnahmen für mehr Klima-, Natur-, Ressourcen- und Lärmschutz. Ich kann nur sagen: Mit der Nachhaltigkeit meinen wir es ernst. Das ist unser Markenkern und mit das höchste Gut, das wir haben.
Überfordert das die Bahn nicht finanziell?
Niemand kann auf Dauer mehr Geld ausgeben als einnehmen. Auch das ist ein Aspekt von Nachhaltigkeit. Aber eine starke Schiene für das Klima und eine bessere Bahn für die Menschen gibt es nicht zum Nulltarif. Deshalb investieren wir jetzt in eine nachhaltige Zukunft und akzeptieren auch einen vorübergehenden Anstieg der Verschuldung. Da bin ich Überzeugungstäter: Wir müssen jetzt handeln und dürfen nicht zögern. Zeit ist kostbar, und der Klimawandel wartet nicht.