Auf den Spuren der Störche
Jungtiere im Südwesten werden beringt – Kürzere Flugrouten verringern die Gefahren für ausgewachsene Vögel
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WILLSTÄTT (dpa) - Höhenangst sollte ein Storchenbetreuer nicht haben. Auf einer Hubarbeitsbühne steigt Gérard Mercier langsam mehrere Meter in die Luft auf. Sein Ziel: ein Scheunendach, auf dem eine Storchenfamilie ihr Nest gebaut hat. Der 73-Jährige muss dieser Tage oft in luftige Höhen. Mercier will insgesamt 100 Jungstörche in ihren Nestern mit einem Ring am Bein ausstatten. Im großen Nest auf der Scheune sitzen zunächst allerdings auch die Eltern der kleinen Störche. Kein Problem, sagt der Storchenexperte. Denn wenn er hoch oben ankommt, fliegen sie davon, nun hat er freie Bahn. „Die Jungtiere stellen sich tot, und ich kann sie einfach markieren.“
Viel Zeit bleibt Mercier für die Aufgabe nicht mehr. „Wenn die Störche etwa sechs Wochen alt sind, bekommen sie die Ringe“, sagt er. Ab einem Alter von sieben Wochen würden Vögel sich dagegen wehren oder versuchen, die Flucht zu ergreifen. „Dann stürzen sie aus dem Nest und sterben.“Früher als in diesen Tagen kann er mit seiner Mission aber nicht anfangen, weil viele der Jungstörche ihre ersten Lebenswochen nicht überleben. Wie viele? Das weiß der Storchenbetreuer für die Region um Kehl (Ortenaukreis) erst, wenn er in alle Nester geschaut hat.
Regen und Kälte haben den Jungstörchen im Südwesten zuletzt zugesetzt. Gérard Mercier befürchtet deshalb, dass 2021 ein schlechtes Jahr für den Nachwuchs werden könnte. „Es hat im Mai häufig geregnet, und viele Tiere sind deswegen gestorben“, sagt der Experte.
Die kleinen Vögel hätten zunächst kein vollständiges Gefieder, sondern nur feine Daunen. „Diese Daunen wärmen die Jungstörche bei Nässe und Wind nicht ausreichend. Die Haupttodesursache ist daher ein Kälteschock.“Trotzdem wird Mercier wohl alle seine Ringe los, denn im Raum Kehl gibt es nach seinen Angaben rund 160 Nester, sogenannte Horste.
„Jeder Ring ist mit einer Nummer ausgestattet und dient als Erkennungsmerkmal“, sagt Wolfgang Fiedler vom Max-Planck-Institut für Ornithologie. In ganz Baden-Württemberg sollen 2500 Tiere solch ein Zeichen bekommen. „Die Ringnummer lässt sich mit dem Fernglas ablesen“, so der Ornithologe. Auf diese Weise werden Daten über das Zug- und Siedelverhalten, die Partnerwahl und die Todesursachen der Weißstörche gesammelt. „Wir wollen durch die Ringe herausfinden, wieso Störche später sterben und ihre Flugrouten kennen“, erklärt auch Gérard Mercier.
Zuletzt ist die Zahl der Störche in Baden-Württemberg gestiegen – und das, obwohl häufig junge Störche die ersten Wochen nicht überleben: 2020 lag der Bruterfolg der Weißstörche bei unter zwei Tieren pro Paar. Insgesamt 2478 Jungtiere sind im vergangenen Jahr ausgeflogen, also ausgebrütet und großgezogen worden, wie die ehemalige Weißstorchbeauftragte des Landes, Ute Reinhard, sagt. Demnach kamen auf ein Storchenpaar im Schnitt 1,66 Jungtiere. „Ein mittelmäßiges Jahr für den Nachwuchs.“Denn eigentlich wären zwei Jungtiere pro Paar nötig, um eine Population aufrechtzuerhalten. Es sterben zwar viele junge Störche, auf der anderen Seite aber überlebten mehr Altstörche. 1495 Paare wurden im vergangenen Jahr nach Angaben Ute Reinhards im Südwesten gezählt. Das sei im Vergleich zu 2019 ein Zuwachs von zwölf Prozent. Grund dafür seien neue Zugrouten. „Die Westzieher fliegen oft nur noch bis nach Spanien und nicht mehr bis nach Afrika. Durch die kürzere Route sind sie weniger Gefahren ausgesetzt.“
Wie sehr Regen und Wind den Jungstörchen in diesem Jahr zugesetzt haben, lässt sich nach Ansicht der Experten im Moment noch nicht einschätzen. „Einige Nesthäkchen sind gestorben, aber wir hatten Schlimmeres erwartet“, sagt Ute Reinhard, die in Oberschwaben Ringe an Störche verteilt.