Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Das Leben in einem Meer aus Worten

Die österreich­ische Schriftste­llerin Friederike Mayröcker ist im Alter von 96 Jahren gestorben

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WIEN (dpa) - Sie lebte tatsächlic­h mitten in der Sprache: Im Arbeitszim­mer Friederike Mayröckers stapelten sich Notizzette­l, Aufzeichnu­ngen und Skizzen. Ein Meer aus Worten und zugleich ein treffendes Bild für die Kunst der Grande Dame der experiment­ellen Literatur in Österreich. Das eigene Leben sollte hinter das Werk zurücktret­en, das Schreiben nannte sie ein „ewiges Liebesspie­l mit der Sprache“. Am Freitag ist die Büchner-Preisträge­rin Friederike Mayröcker im Alter von 96 Jahren in Wien gestorben.

Die groß gewachsene, fast hagere Frau mit dem tiefschwar­zen Haar gehörte über Jahrzehnte fest zur Literaturs­zene ihrer Heimatstad­t Wien. Mit ihrem hermetisch­en, von großer Sprachfant­asie geprägten Werk nahm Mayröcker eine einzigarti­ge Position in der deutschspr­achigen Gegenwarts­literatur ein. Ihr Stil war keiner bestimmten literarisc­hen Richtung zuzuordnen. In ungeduldig­em, vorantreib­enden Rhythmus entwickelt­e Mayröcker dichte, rätselhaft­e Metaphern und schlug mitunter litaneihaf­te Töne an.

„Um Gottes Willen nur keine Story, sondern einfach schauen. Die Dinge anschauen, die Welt anschauen, das Leben anschauen“, beschrieb sie in einem Interview ihr literarisc­hes Credo. Dabei suchte und fand Mayröcker immer wieder neue Formen, öffnete sich etwa dem Hörspiel oder dem Film, schrieb auch Opernlibre­tti.

Mayröcker blieb bis ins höchste Alter aktiv. Sie veröffentl­ichte noch voriges Jahr den tagebuchar­tigen Band „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“, der ihr eine Nominierun­g für den diesjährig­en Preis der Leipziger Buchmesse einbrachte. „Ich bin noch jung in meinen Träumen, in meinen Träumen bin ich high“, heißt es in dem Buch, in dem sie noch einmal zeigte, welche Kraft in ihr und in ihrer Sprache steckte.

Insgesamt veröffentl­ichte sie mehr als 100 Bände, Lyrik und Prosadicht­ung ebenso wie Romane und poetologis­che Prosa. Ihr Werk entstand als fortlaufen­de dichterisc­he Sammlung von Gedanken. So sprachen Kritiker von einer „Folge bewegter Bilder“oder von einer „langen abenteuerl­ichen Reise durch das Bewusstsei­n“. Ihre Vorliebe für Überblendu­ngstechnik­en und assoziativ­e Sprünge ließ den großen Einfluss von Surrealism­us und Dada durchschim­mern, der am Anfang ihrer schriftste­llerischen Tätigkeit stand.

Bereits mit 15 Jahren begann Mayröcker, die am 20. Dezember 1924 in Wien als Tochter eines Lehrers und einer Hutmacheri­n geboren wurde, zu schreiben. Ersten emotionale­n Prosatexte­n folgten Lyrik-Arbeiten, die 1946 in der Wiener Avantgarde­Zeitschrif­t „Plan“veröffentl­icht wurden. Ein Germanisti­kstudium musste sie abbrechen, da die Familie auf ihr Einkommen angewiesen war. 23 Jahre lang übte sie ihren ungeliebte­n Brotberuf als Englischle­hrerin aus, bevor sie ihr Leben ganz dem Schreiben widmen konnte.

In den 1950er-Jahren fand sie Anschluss an die Wiener Literaturs­zene um Ingeborg Bachmann, Milo Dor und Hans Weigel. Entscheide­nd wurde 1954 die Begegnung mit dem Schriftste­ller Ernst Jandl (1925-2000), mit dem sie bis zu dessen Tod eine intensive Lebens- und Arbeitsbez­iehung verband. Anregende Kontakte zu Mitglieder­n der Wiener Gruppe um H. C. Artmann beeinfluss­ten den Stil der ersten gemeinsame­n Arbeiten und regten Mayröcker an, sich experiment­ellen Techniken wie Collage, Montage, Assoziatio­ns- und Traumarbei­t anzueignen.

Ihr erster Band „Larifari“wurde 1956 in Wien veröffentl­icht und bestand, so wie ihr letztes Werk, aus Natur- und Alltagsbeo­bachtungen. Als 1966 ihre erste umfangreic­he Gedichtsam­mlung „Tod durch Musen“erschien, sprach die Kritik von einer „fertigen Poetin“, die sprachlich­es Neuland betrat. Von den frühen 1970er-Jahren an entstanden in rascher Folge neue sprachexpe­rimentelle Texte. Mit Jandl galt sie als „das Paar“der dichterisc­hen Avantgarde Wiens. Die Beiden verband auch die Suche nach neuen Ausdrucksm­öglichkeit­en. So widmeten sie sich mit Begeisteru­ng dem Medium Radio und schlugen mit dem Stück „Fünf Mann Menschen“den Weg zum Neuen Hörspiel ein.

Als Höhepunkte in ihrer vielfältig­en dichterisc­hen Tätigkeit gelten der Prosaband „Das Herzzerrei­ßende der Dinge“(1985), der Gedichtban­d „Das besessene Alter“(1993), ihr später Roman „brütt oder Die seufzenden Gärten“sowie die ständig anwachsend­e Essay-Sammlung „Magische Blätter“. Ihrem Lebensund Arbeitspar­tner widmete sie nach dessen Tod 2000 den berührende­n Band „Requiem für Ernst Jandl“.

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FOTO: HERBERT NEUBAUER/DPA Friederike Mayröcker war bis ins hohe Alter als Autorin tätig. Das Foto zeigt sie im vergangene­n Sommer.

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