Protest im Forst
● MÜNCHEN/RAVENSBURG - Am frühen Nachmittag kommt die Nachricht, die alle befürchten. Regen prasselt auf das kleine Lager im Forst Kasten bei München. Eine leere Hängematte weht zwischen den Baumkronen, die Banner mit den kämpferischen Parolen sind nass. Durchweichte Stiefel, müde Gesichter: Rund zehn junge Menschen harren im bedrohten Waldgebiet zwischen Gauting und Neuried aus. Sie sind nicht allein, mehrere Polizeibusse stehen in der Nähe. Zwei Beamte warten auf Pferden. Dann setzen sich mehrere Einsatzkräfte in Bewegung, sie wollen den Versammlungsleiter sprechen. „Oh, das war’s“, sagt ein Jugendlicher.
Ihre Aktion im Wald – umsonst. Die Banner in den Baumwipfeln, die spontanen Demonstrationen in der Stadt, das mediale Echo – ohne Erfolg. Der Münchner Stadtrat hat für die Rodung von 10 000 Bäumen gestimmt. Es ist ein Rückschlag für die Aktivistinnen und Aktivisten. Doch von Wut und Aggression ist nichts zu spüren. Ohne Gegenrede lösen sie ihre Versammlung auf, rollen Schlafsäcke und Planen zusammen, räumen Wasserkanister, Netze mit Orangen und Tupperboxen in Kisten. Ein junger Mann klettert einen Baum hinauf und löst die Bänder des großen Banners mit der Aufschrift: „Eure Devise: mit Vollgas in die Krise“.
Doch was nach Aufgeben aussieht, ist nur ein kurzes Luftholen. Denn unter der Oberfläche brodelt es in der Bewegung. Kohleabbau, Autobahnen, Stahlwerke – und, wie in Oberschwaben und München, der Kiesabbau: Drohende Rodungen bringen Menschen in ganz Deutschland auf die Straßen und in die Wälder. Waldbesetzungen gewinnen zunehmend an Bedeutung. Teilweise haben sie Erfolg – und verursachen massive Kosten für Steuerzahler. Vor allem junge Erwachsene engagieren sich und investieren ihre Zeit und Energie, um die Natur zu schützen.
Die Szene ist längst deutschlandweit vernetzt und bringt den medial bekannten Protest etwa aus dem Dannenröder oder Hambacher Forst nach Süddeutschland. Seit Ende Februar ist etwa ein
Teil des Altdorfer
Waldes im Landkreis Ravensburg besetzt.
Er ist mit 82 Quadratkilometern der größte zusammenhängende Wald Oberschwabens. Dort, in der Nähe von Vogt, hat sich eine Gruppe von Klimaaktivisten breitgemacht, um ebenfalls gegen einen geplanten Kiesabbau zu protestieren.
Was Ende Februar mit zwei Hütten begann, hat sich in der Zwischenzeit zu einem Baumhausdorf weiterentwickelt. Rund 20 Baumhäuser sind entstanden, in denen die Aktivisten leben. Viele von ihnen sind Schüler und Studenten. „Wir sind um die 50 Leute, die sich hier gegen den Kiesabbau einsetzen“, sagt Samuel Bosch. Der 18-Jährige hat das Dorf im Altdorfer Wald gegründet.
Während sich die Gruppe im Forst Kasten nach der vorläufigen Niederlage zurückzieht, sammeln sich die Kräfte an anderer Stelle: im Internet. Man kennt sich von anderen Waldbesetzungen wie dem Dannenröder Forst, tauscht sich über soziale Medien wie Instagram, Telegram oder Twitter aus und besucht sich auch gegenseitig. So kommen Protestprofis aus ganz Deutschland oder sogar aus den Nachbarländern zum Demonstrieren nach Oberschwaben.
Auch der Münchner Protest zeigt gut, wie die Demonstranten das Netz nutzen, um regionale Gruppen zur Baumschützerszene zusammenzuschweißen. Vor der Entscheidung des Münchner Stadtrats herrschte eine atemlose Spannung im „Kasti“Kanal auf der verschlüsselten Plattform Telegram, fast minütlich blitzten Neuigkeiten aus der Sitzung auf. Bereits im Jahr 2017 wurde der Kiesabbau in dem Wald bei München beschlossen, seitdem laufen Ausschreibungen.
Eine Mehrheit in der grün-roten Stadtregierung hatte sich nach den Protestaktionen zunächst gegen die Abholzung positioniert. Doch Forst Kasten liegt auf dem Gelände der Heiliggeistspital-Stiftung Münchens. Die Stadträtinnen und Stadträte sind daher verpflichtet, im wirtschaftlichen Interesse der Stiftung zu handeln. Seit rund sechs Jahrzehnten wird in dem Wald südwestlich von München Kies abgebaut, nun geht es um weitere neun Hektar.
Kies ist auch in Oberschwaben Auslöser der Waldbesetzungen. Die Region gilt als reich an Kies, weil Gletscher in der letzten Eiszeit Kies von den Alpen nach Süddeutschland schoben. Jetzt plant der Regionalverband BodenseeOberschwaben den Neuaufschluss einer elf Hektar großen Grube im Altdorfer Wald. Weil viele Bürger den Wald schützen wollen, Schwerlastverkehr befürchten und mehr CO2-Ausstoß verhindern wollen oder Angst um die Trinkwasserquellen in der Nähe haben, hat sich eine breite Widerstandsbewegung gebildet, die mittlerweile in alle Gesellschaftsschichten reicht.
Eine weitere Aktion in der Region endet nach wenigen Tagen: Aktivisten besetzten am Pfingstmontag ein Waldstück bei Hagnau (Bodenseekreis), um gegen die Rodung für den Bau eines neuen Teilstücks der B 31 zu demonstrieren. Zwei Tage darauf bat das Landratsamt um Räumung. Ein Sondereinsatzkommando der Polizei war vor Ort, musste aber nicht eingreifen, die vornehmlich jungen Aktivistinnen und Aktivisten zogen freiwillig ab.
Tarek Luft ist einer von denen, die in München im Wald protestieren. Obwohl das Camp zunächst aufgelöst wurde, ist er dorthin zurückgekehrt. Regen rinnt über seinen grauen Parka. Seine Augen sind müde, die Haare zerzaust. Als er von der anstehenden Abstimmung des Stadtrats erfuhr, packte er seine Schlafsachen und radelte in den Forst. Er ist Auszubildender, über sein Handy nahm er im Wald am Unterricht in der Berufsschule teil. „Für seine Ideale macht man solche Dinge“, sagt er. Es ist die erste Waldbesetzung des 21Jährigen.
Pfützen breiten sich um das Lager aus, der Geruch von Erde und Moos liegt in der Luft. „Hier zu schlafen ist kalt, nass und unangenehm“, sagt Luft. „Aber auch sehr schön, vor allem mitten im Vogelzwitschern aufzuwachen." Die Zeit im Wald gebe ihm Kraft und Energie, sich weiter zu engagieren. Denn ein Ende der Aktionen im Forst Kasten ist noch nicht in Sicht. Auch für die Polizei nicht, sie wird in den folgenden Tagen und Nächten vor Ort sein.
Nadja Lüttich ist Mitglied des Instituts für Bewegungs- und Protestforschung in Berlin und untersucht verschiedene soziale Gruppierungen,
unter anderem Fridays for Future und Waldbesetzungen. „Der Höhepunkt der Klimabewegung ist noch nicht erreicht“, sagt die Wissenschaftlerin. Die Akzeptanz in der Bevölkerung für das Engagement nehme zu, ebenso die Unterstützung. Immer mehr Menschen schließen sich an. Genaue Zahlen dazu gibt es nicht, doch Lüttich kann sich den Zulauf erklären.
„Wir haben multiple Krisenlagen, die sich verändern und verstärken“, sagt sie. Bürgerinnen und Bürger nähmen nicht mehr alle verordneten Maßnahmen einfach hin, sondern hinterfragten diese und stellten sich ihnen auch in den Weg. Institutionen werde nicht mehr zugetraut, dass sie alles regeln. „Die Menschen nehmen das lieber selbst in die Hand.“
In der Nacht nach der Münchner Abstimmung reisen drei Augsburger an, unter ihnen Ingo Blechschmidt. „Wir hatten das Gefühl, wir müssen ein Mahnmal hinterlassen", sagt der
Aktivist. Sie wollen ein Baumhaus bauen. Doch der Plan wird vereitelt: „Vor uns gingen die Scheinwerfer an, die Polizei stand Wache.“Die Gruppe teilt sich auf und weicht in den Wald aus, wie der Dozent erzählt. Denn sie hat teure Kletterausrüstung dabei, die die Polizei mit hoher Wahrscheinlichkeit konfiszieren würde. „Und plötzlich hörten wir einen Hubschrauber über uns."
Auf Anfrage bestätigt die Münchner Polizei den Einsatz eines Hubschraubers, „zum Ausleuchten der Örtlichkeit“. Wie Blechschmidt ausführt, habe sie der Hubschrauber etwa 20 Minuten durch den Wald verfolgt und sei dann abgedreht. „Da fragen wir uns schon, was das soll“, sagt Blechschmidt.
Zur hohen Präsenz im Forst Kasten äußert sich die Polizei nicht. Blechschmidt vermutet, dass die Stadt München mit allen Mitteln eine dauerhafte Besetzung verhindern will. Denn das ist auch eine Geldfrage.
Die zweimonatigen Räumungseinsätze der Polizei vergangenes Jahr im Dannenröder Forst beispielsweise kosteten die Steuerzahler einen erheblichen zweistelligen Millionenbetrag, wie eine Anfrage der FDP-Fraktion an den hessischen Landtag ergab.
Die hohe Polizeipräsenz irritierte Blechschmidt, aber der wahre Skandal sei die drohende Abholzung des intakten Waldes. Die Aktion habe nichts mit jugendlichen Krawallmachern zu tun, die jungen Menschen handelten aus tiefster Überzeugung und nähmen Risiken in Kauf, für ihre berufliche Weiterentwicklung oder sogar ihre Freiheit. „Unsere Aktionen werden immer größer – und schaden der Politik und klimazerstörenden Konzernen.“Demonstrationen zeigten kaum Wirkung, neue, kreative Formen des Protests seien gefragt. Doch sie strebten ihre Ziele auf eine friedliche Weise an, niemals durch Gewalt oder Sachbeschädigung, wie Blechschmidt betont.
Ende Mai aber hielt ein großflächiger Stromausfall die Stadt München in Atem. 20 000 Haushalte waren teilweise länger als einen Tag ohne Strom. Der Grund: ein Brandanschlag auf Stromkabel. Ein anonymes Bekennerschreiben nennt als Ziel ein Münchner Rüstungsunternehmen und suggeriert einen Racheakt für die Entscheidung des
„Der Höhepunkt der Klimabewegung ist noch nicht erreicht.“Nadja Lüttich, Institut für Bewegungs- und Protestforschung
„Wir sind vielleicht wenige vor Ort, aber wir sind bereit, sofort wiederzukommen.“Ingo Blechschmidt, Klimaaktivist
Münchner Stadtrats, im Forst Kasten zu roden. Das Schreiben hat möglicherweise einen linksextremen Hintergrund, doch Verbindungen in die Klimaszene sind nicht bewiesen. Blechschmidt distanziert sich in aller Deutlichkeit von der Tat.
Eine flächendeckende Radikalisierung sei in der Klimabewegung nicht zu beobachten, sagt auch die Protestexpertin Nadja Lüttich. Radikale und gefährliche Aktionen, wie etwa bei den früheren Anti-Atomkraft-Gruppen, seien insgesamt zurückgegangen. Bei den Taten heute handele es sich höchstens um Ordnungswidrigkeiten, nicht um Kriminalität.
Das war in Ravensburg schon anders: Dort blockierten die Aktivisten eine Hauptverkehrsstraße mit einem Seil und Hängematten über der Fahrbahn und mussten von einem Sondereinsatzkommando der Polizei aus der Höhe geholt werden. Der Verkehr der Bundesstraße musste für mehrere Stunden umgeleitet werden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sieben der Klimaaktivisten wegen des Verdachts auf Nötigung, gegen drei von ihnen auch wegen möglichen Hausfriedensbruchs. Polizeipräsident Uwe Stürmer warnt in einem offenen Brief vor einer weiteren Radikalisierung: Auch im Altdorfer Wald seien Plakate mit Aufschriften wie „Militanz“oder „No Cops“zu lesen. Auch Graffiti mit „Bagger werden brennen“beunruhigten ihn. Nicht nur ihn: Die Ravensburger Stadträtin und SPD-Bundestagskandidatin Heike Engelhardt sieht eine Radikalisierung der Szene und die Grünen im Gemeinderat befürchten, eine Aktion wie in Ravensburg schade der Sache. Demonstranten und Gruppen wie „Parents for Future“dagegen werfen der Polizei zu hartes Vorgehen vor. Sie sehen „Verunglimpfungen, Kriminalisierungsversuche und Schikane“durch Einsatzkräfte, Behörden und Medien. „Die Erfahrungen, die wir selbst oder unsere Kinder machen mussten, sind teilweise skandalös, einer bürgernahen Polizei unwürdig und absolut inakzeptabel“, schreiben sie über den Polizeieinsatz. Dagegen verwahrt sich wiederum der Polizeipräsident.
Im Forst Kasten hat es nach Angaben der Polizei bis jetzt keine Gesetzesverstöße gegeben. „Das Geschehen vor Ort ist friedlich, kommunikativ und kooperativ zwischen Demonstranten und Polizei“, heißt es. Auch Bürgerinitiativen vor Ort sprechen ihre Unterstützung aus. „Sie sind froh, dass wir da sind“, sagt Blechschmidt. Die Aktivistinnen und Aktivisten sind Studierende, Schülerinnen und Schüler, Auszubildende, Menschen mit Wut im Bauch. Rodungen sind für sie profitorientierte Zerstörung. Die Verzweiflung darüber treibt sie an, die Angst vor noch schlimmeren Auswirkungen des Klimawandels. „Wir sind keine Berufsdemonstranten“, sagt Blechschmidt. Ihre Ressourcen seien begrenzt. Eine endgültige Rodung des Forstes Kasten stehe frühestens in zwei Jahren bevor, so lange könnten sie keine Besetzung durchhalten.
Die Telegram-Gruppe der Protestierenden hat sich vergrößert, über 250 Mitglieder sind darin angemeldet. Jeden Tag fliegen Nachrichten hin und her, das Lager im Forst Kasten wird wieder aufrechterhalten. Die wenigen Aktiven im Wald täuschen, sagt Blechschmidt. Hinter ihnen stehe eine große Gemeinschaft, deutschlandweit und über Landesgrenzen hinweg. „Wir sind vielleicht wenige vor Ort, aber, Politiker, erinnert euch an die Klimakrise! Wir sind bereit, sofort wiederzukommen.“