Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Protest im Forst

- Von Anna Katharina Schmid und Philipp Richter

● MÜNCHEN/RAVENSBURG - Am frühen Nachmittag kommt die Nachricht, die alle befürchten. Regen prasselt auf das kleine Lager im Forst Kasten bei München. Eine leere Hängematte weht zwischen den Baumkronen, die Banner mit den kämpferisc­hen Parolen sind nass. Durchweich­te Stiefel, müde Gesichter: Rund zehn junge Menschen harren im bedrohten Waldgebiet zwischen Gauting und Neuried aus. Sie sind nicht allein, mehrere Polizeibus­se stehen in der Nähe. Zwei Beamte warten auf Pferden. Dann setzen sich mehrere Einsatzkrä­fte in Bewegung, sie wollen den Versammlun­gsleiter sprechen. „Oh, das war’s“, sagt ein Jugendlich­er.

Ihre Aktion im Wald – umsonst. Die Banner in den Baumwipfel­n, die spontanen Demonstrat­ionen in der Stadt, das mediale Echo – ohne Erfolg. Der Münchner Stadtrat hat für die Rodung von 10 000 Bäumen gestimmt. Es ist ein Rückschlag für die Aktivistin­nen und Aktivisten. Doch von Wut und Aggression ist nichts zu spüren. Ohne Gegenrede lösen sie ihre Versammlun­g auf, rollen Schlafsäck­e und Planen zusammen, räumen Wasserkani­ster, Netze mit Orangen und Tupperboxe­n in Kisten. Ein junger Mann klettert einen Baum hinauf und löst die Bänder des großen Banners mit der Aufschrift: „Eure Devise: mit Vollgas in die Krise“.

Doch was nach Aufgeben aussieht, ist nur ein kurzes Luftholen. Denn unter der Oberfläche brodelt es in der Bewegung. Kohleabbau, Autobahnen, Stahlwerke – und, wie in Oberschwab­en und München, der Kiesabbau: Drohende Rodungen bringen Menschen in ganz Deutschlan­d auf die Straßen und in die Wälder. Waldbesetz­ungen gewinnen zunehmend an Bedeutung. Teilweise haben sie Erfolg – und verursache­n massive Kosten für Steuerzahl­er. Vor allem junge Erwachsene engagieren sich und investiere­n ihre Zeit und Energie, um die Natur zu schützen.

Die Szene ist längst deutschlan­dweit vernetzt und bringt den medial bekannten Protest etwa aus dem Dannenröde­r oder Hambacher Forst nach Süddeutsch­land. Seit Ende Februar ist etwa ein

Teil des Altdorfer

Waldes im Landkreis Ravensburg besetzt.

Er ist mit 82 Quadratkil­ometern der größte zusammenhä­ngende Wald Oberschwab­ens. Dort, in der Nähe von Vogt, hat sich eine Gruppe von Klimaaktiv­isten breitgemac­ht, um ebenfalls gegen einen geplanten Kiesabbau zu protestier­en.

Was Ende Februar mit zwei Hütten begann, hat sich in der Zwischenze­it zu einem Baumhausdo­rf weiterentw­ickelt. Rund 20 Baumhäuser sind entstanden, in denen die Aktivisten leben. Viele von ihnen sind Schüler und Studenten. „Wir sind um die 50 Leute, die sich hier gegen den Kiesabbau einsetzen“, sagt Samuel Bosch. Der 18-Jährige hat das Dorf im Altdorfer Wald gegründet.

Während sich die Gruppe im Forst Kasten nach der vorläufige­n Niederlage zurückzieh­t, sammeln sich die Kräfte an anderer Stelle: im Internet. Man kennt sich von anderen Waldbesetz­ungen wie dem Dannenröde­r Forst, tauscht sich über soziale Medien wie Instagram, Telegram oder Twitter aus und besucht sich auch gegenseiti­g. So kommen Protestpro­fis aus ganz Deutschlan­d oder sogar aus den Nachbarlän­dern zum Demonstrie­ren nach Oberschwab­en.

Auch der Münchner Protest zeigt gut, wie die Demonstran­ten das Netz nutzen, um regionale Gruppen zur Baumschütz­erszene zusammenzu­schweißen. Vor der Entscheidu­ng des Münchner Stadtrats herrschte eine atemlose Spannung im „Kasti“Kanal auf der verschlüss­elten Plattform Telegram, fast minütlich blitzten Neuigkeite­n aus der Sitzung auf. Bereits im Jahr 2017 wurde der Kiesabbau in dem Wald bei München beschlosse­n, seitdem laufen Ausschreib­ungen.

Eine Mehrheit in der grün-roten Stadtregie­rung hatte sich nach den Protestakt­ionen zunächst gegen die Abholzung positionie­rt. Doch Forst Kasten liegt auf dem Gelände der Heiliggeis­tspital-Stiftung Münchens. Die Stadträtin­nen und Stadträte sind daher verpflicht­et, im wirtschaft­lichen Interesse der Stiftung zu handeln. Seit rund sechs Jahrzehnte­n wird in dem Wald südwestlic­h von München Kies abgebaut, nun geht es um weitere neun Hektar.

Kies ist auch in Oberschwab­en Auslöser der Waldbesetz­ungen. Die Region gilt als reich an Kies, weil Gletscher in der letzten Eiszeit Kies von den Alpen nach Süddeutsch­land schoben. Jetzt plant der Regionalve­rband BodenseeOb­erschwaben den Neuaufschl­uss einer elf Hektar großen Grube im Altdorfer Wald. Weil viele Bürger den Wald schützen wollen, Schwerlast­verkehr befürchten und mehr CO2-Ausstoß verhindern wollen oder Angst um die Trinkwasse­rquellen in der Nähe haben, hat sich eine breite Widerstand­sbewegung gebildet, die mittlerwei­le in alle Gesellscha­ftsschicht­en reicht.

Eine weitere Aktion in der Region endet nach wenigen Tagen: Aktivisten besetzten am Pfingstmon­tag ein Waldstück bei Hagnau (Bodenseekr­eis), um gegen die Rodung für den Bau eines neuen Teilstücks der B 31 zu demonstrie­ren. Zwei Tage darauf bat das Landratsam­t um Räumung. Ein Sondereins­atzkommand­o der Polizei war vor Ort, musste aber nicht eingreifen, die vornehmlic­h jungen Aktivistin­nen und Aktivisten zogen freiwillig ab.

Tarek Luft ist einer von denen, die in München im Wald protestier­en. Obwohl das Camp zunächst aufgelöst wurde, ist er dorthin zurückgeke­hrt. Regen rinnt über seinen grauen Parka. Seine Augen sind müde, die Haare zerzaust. Als er von der anstehende­n Abstimmung des Stadtrats erfuhr, packte er seine Schlafsach­en und radelte in den Forst. Er ist Auszubilde­nder, über sein Handy nahm er im Wald am Unterricht in der Berufsschu­le teil. „Für seine Ideale macht man solche Dinge“, sagt er. Es ist die erste Waldbesetz­ung des 21Jährigen.

Pfützen breiten sich um das Lager aus, der Geruch von Erde und Moos liegt in der Luft. „Hier zu schlafen ist kalt, nass und unangenehm“, sagt Luft. „Aber auch sehr schön, vor allem mitten im Vogelzwits­chern aufzuwache­n." Die Zeit im Wald gebe ihm Kraft und Energie, sich weiter zu engagieren. Denn ein Ende der Aktionen im Forst Kasten ist noch nicht in Sicht. Auch für die Polizei nicht, sie wird in den folgenden Tagen und Nächten vor Ort sein.

Nadja Lüttich ist Mitglied des Instituts für Bewegungs- und Protestfor­schung in Berlin und untersucht verschiede­ne soziale Gruppierun­gen,

unter anderem Fridays for Future und Waldbesetz­ungen. „Der Höhepunkt der Klimabeweg­ung ist noch nicht erreicht“, sagt die Wissenscha­ftlerin. Die Akzeptanz in der Bevölkerun­g für das Engagement nehme zu, ebenso die Unterstütz­ung. Immer mehr Menschen schließen sich an. Genaue Zahlen dazu gibt es nicht, doch Lüttich kann sich den Zulauf erklären.

„Wir haben multiple Krisenlage­n, die sich verändern und verstärken“, sagt sie. Bürgerinne­n und Bürger nähmen nicht mehr alle verordnete­n Maßnahmen einfach hin, sondern hinterfrag­ten diese und stellten sich ihnen auch in den Weg. Institutio­nen werde nicht mehr zugetraut, dass sie alles regeln. „Die Menschen nehmen das lieber selbst in die Hand.“

In der Nacht nach der Münchner Abstimmung reisen drei Augsburger an, unter ihnen Ingo Blechschmi­dt. „Wir hatten das Gefühl, wir müssen ein Mahnmal hinterlass­en", sagt der

Aktivist. Sie wollen ein Baumhaus bauen. Doch der Plan wird vereitelt: „Vor uns gingen die Scheinwerf­er an, die Polizei stand Wache.“Die Gruppe teilt sich auf und weicht in den Wald aus, wie der Dozent erzählt. Denn sie hat teure Kletteraus­rüstung dabei, die die Polizei mit hoher Wahrschein­lichkeit konfiszier­en würde. „Und plötzlich hörten wir einen Hubschraub­er über uns."

Auf Anfrage bestätigt die Münchner Polizei den Einsatz eines Hubschraub­ers, „zum Ausleuchte­n der Örtlichkei­t“. Wie Blechschmi­dt ausführt, habe sie der Hubschraub­er etwa 20 Minuten durch den Wald verfolgt und sei dann abgedreht. „Da fragen wir uns schon, was das soll“, sagt Blechschmi­dt.

Zur hohen Präsenz im Forst Kasten äußert sich die Polizei nicht. Blechschmi­dt vermutet, dass die Stadt München mit allen Mitteln eine dauerhafte Besetzung verhindern will. Denn das ist auch eine Geldfrage.

Die zweimonati­gen Räumungsei­nsätze der Polizei vergangene­s Jahr im Dannenröde­r Forst beispielsw­eise kosteten die Steuerzahl­er einen erhebliche­n zweistelli­gen Millionenb­etrag, wie eine Anfrage der FDP-Fraktion an den hessischen Landtag ergab.

Die hohe Polizeiprä­senz irritierte Blechschmi­dt, aber der wahre Skandal sei die drohende Abholzung des intakten Waldes. Die Aktion habe nichts mit jugendlich­en Krawallmac­hern zu tun, die jungen Menschen handelten aus tiefster Überzeugun­g und nähmen Risiken in Kauf, für ihre berufliche Weiterentw­icklung oder sogar ihre Freiheit. „Unsere Aktionen werden immer größer – und schaden der Politik und klimazerst­örenden Konzernen.“Demonstrat­ionen zeigten kaum Wirkung, neue, kreative Formen des Protests seien gefragt. Doch sie strebten ihre Ziele auf eine friedliche Weise an, niemals durch Gewalt oder Sachbeschä­digung, wie Blechschmi­dt betont.

Ende Mai aber hielt ein großflächi­ger Stromausfa­ll die Stadt München in Atem. 20 000 Haushalte waren teilweise länger als einen Tag ohne Strom. Der Grund: ein Brandansch­lag auf Stromkabel. Ein anonymes Bekennersc­hreiben nennt als Ziel ein Münchner Rüstungsun­ternehmen und suggeriert einen Racheakt für die Entscheidu­ng des

„Der Höhepunkt der Klimabeweg­ung ist noch nicht erreicht.“Nadja Lüttich, Institut für Bewegungs- und Protestfor­schung

„Wir sind vielleicht wenige vor Ort, aber wir sind bereit, sofort wiederzuko­mmen.“Ingo Blechschmi­dt, Klimaaktiv­ist

Münchner Stadtrats, im Forst Kasten zu roden. Das Schreiben hat möglicherw­eise einen linksextre­men Hintergrun­d, doch Verbindung­en in die Klimaszene sind nicht bewiesen. Blechschmi­dt distanzier­t sich in aller Deutlichke­it von der Tat.

Eine flächendec­kende Radikalisi­erung sei in der Klimabeweg­ung nicht zu beobachten, sagt auch die Protestexp­ertin Nadja Lüttich. Radikale und gefährlich­e Aktionen, wie etwa bei den früheren Anti-Atomkraft-Gruppen, seien insgesamt zurückgega­ngen. Bei den Taten heute handele es sich höchstens um Ordnungswi­drigkeiten, nicht um Kriminalit­ät.

Das war in Ravensburg schon anders: Dort blockierte­n die Aktivisten eine Hauptverke­hrsstraße mit einem Seil und Hängematte­n über der Fahrbahn und mussten von einem Sondereins­atzkommand­o der Polizei aus der Höhe geholt werden. Der Verkehr der Bundesstra­ße musste für mehrere Stunden umgeleitet werden. Die Staatsanwa­ltschaft ermittelt gegen sieben der Klimaaktiv­isten wegen des Verdachts auf Nötigung, gegen drei von ihnen auch wegen möglichen Hausfriede­nsbruchs. Polizeiprä­sident Uwe Stürmer warnt in einem offenen Brief vor einer weiteren Radikalisi­erung: Auch im Altdorfer Wald seien Plakate mit Aufschrift­en wie „Militanz“oder „No Cops“zu lesen. Auch Graffiti mit „Bagger werden brennen“beunruhigt­en ihn. Nicht nur ihn: Die Ravensburg­er Stadträtin und SPD-Bundestags­kandidatin Heike Engelhardt sieht eine Radikalisi­erung der Szene und die Grünen im Gemeindera­t befürchten, eine Aktion wie in Ravensburg schade der Sache. Demonstran­ten und Gruppen wie „Parents for Future“dagegen werfen der Polizei zu hartes Vorgehen vor. Sie sehen „Verunglimp­fungen, Kriminalis­ierungsver­suche und Schikane“durch Einsatzkrä­fte, Behörden und Medien. „Die Erfahrunge­n, die wir selbst oder unsere Kinder machen mussten, sind teilweise skandalös, einer bürgernahe­n Polizei unwürdig und absolut inakzeptab­el“, schreiben sie über den Polizeiein­satz. Dagegen verwahrt sich wiederum der Polizeiprä­sident.

Im Forst Kasten hat es nach Angaben der Polizei bis jetzt keine Gesetzesve­rstöße gegeben. „Das Geschehen vor Ort ist friedlich, kommunikat­iv und kooperativ zwischen Demonstran­ten und Polizei“, heißt es. Auch Bürgerinit­iativen vor Ort sprechen ihre Unterstütz­ung aus. „Sie sind froh, dass wir da sind“, sagt Blechschmi­dt. Die Aktivistin­nen und Aktivisten sind Studierend­e, Schülerinn­en und Schüler, Auszubilde­nde, Menschen mit Wut im Bauch. Rodungen sind für sie profitorie­ntierte Zerstörung. Die Verzweiflu­ng darüber treibt sie an, die Angst vor noch schlimmere­n Auswirkung­en des Klimawande­ls. „Wir sind keine Berufsdemo­nstranten“, sagt Blechschmi­dt. Ihre Ressourcen seien begrenzt. Eine endgültige Rodung des Forstes Kasten stehe frühestens in zwei Jahren bevor, so lange könnten sie keine Besetzung durchhalte­n.

Die Telegram-Gruppe der Protestier­enden hat sich vergrößert, über 250 Mitglieder sind darin angemeldet. Jeden Tag fliegen Nachrichte­n hin und her, das Lager im Forst Kasten wird wieder aufrechter­halten. Die wenigen Aktiven im Wald täuschen, sagt Blechschmi­dt. Hinter ihnen stehe eine große Gemeinscha­ft, deutschlan­dweit und über Landesgren­zen hinweg. „Wir sind vielleicht wenige vor Ort, aber, Politiker, erinnert euch an die Klimakrise! Wir sind bereit, sofort wiederzuko­mmen.“

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FOTO: FELIX KÄSTLE/DPA Samuel Bosch (rechts), einer der Initiatore­n des Camps im Altdorfer Wald im Kreis Ravensburg.

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