Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Die neue Normalität

Erste Unternehme­n legen sich auf das Homeoffice als künftige Arbeitsfor­m fest – Vorreiter ist die IT-Branche

- Von Michael Brehme

STUTTGART (dpa) - Die Arbeitswel­t von morgen erschien für die meisten Menschen bis zum Frühjahr 2020 als reine Utopie. Und wurde dann schlagarti­g Realität: Binnen weniger Tage drängte die Corona-Pandemie zu Beginn der Krise Millionen Arbeitnehm­er ins Homeoffice. Inzwischen haben sich viele an die Heimarbeit gewöhnt. Angestellt­e wie Firmen haben die Vorteile zu schätzen gelernt. Einen Weg zurück in eine jahrzehnte­lang typische Fünf-TageBürowo­che dürfte es vielerorts auch nach der Pandemie kaum geben. Etliche Unternehme­n haben ihren Mitarbeite­rn schon flexiblere Arbeitsmod­elle für die Zukunft zugesicher­t. Einige gehen noch weiter und wollen das Homeoffice dauerhaft als neue Normalität etablieren.

Zu sehen ist das besonders in der IT-Branche. So versucht Europas größter Softwareko­nzern SAP, der seinen Beschäftig­ten schon vor der Pandemie die Möglichkei­t von bis zu vier Homeoffice-Tagen pro Woche einräumte, nochmals an Flexibilit­ät zuzulegen. „Bei den meisten SAPMitarbe­itern spielt es keine Rolle, von wo aus sie arbeiten. Wenn es die Tätigkeit nicht zwingend verlangt, an einem bestimmten Ort präsent zu sein, haben die Mitarbeite­r bei der Wahl ihres Standorts alle Freiheiten“, sagt Cawa Younosi, der als Deutschlan­d-Personalch­ef bei dem Konzern für rund 25 000 Beschäftig­te zuständig ist.

Noch etwas weiter geht das ITUnterneh­men Hewlett Packard Enterprise (HPE). Bei der US-Firma, dessen deutscher Ableger in Böblingen rund 2000 Mitarbeite­r beschäftig­t, wird das Homeoffice generell zum neuen Standard-Arbeitsort für die meisten Mitarbeite­r erklärt. Sofern es die Tätigkeit erlaubt, sollen die Beschäftig­ten künftig möglichst immer von daheim arbeiten, wenn sie nicht unbedingt im Büro anwesend sein müssen. Sie müssen dieser Umstellung laut HPE vorab jeweils zustimmen. Im Zuge des Konzepts sollen auch die Büros optisch umgestalte­t werden – zu Orten „der Begegnunge­n und des Austauschs“, wie es heißt. „Man geht dort also vor allem hin, um an Besprechun­gen, TeamMeetin­gs, Workshops, Trainings oder Feiern mit Kollegen, Kunden und Partnern teilzunehm­en“, sagt ein HPE-Sprecher. Man wisse aus Mitarbeite­rumfragen, dass ortsunabhä­ngige Arbeit von einer großen Mehrheit nicht nur sehr geschätzt werde, sondern obendrein zu einer höheren Produktivi­tät führe.

SAP-Personalch­ef Younosi sieht es ähnlich und argumentie­rt im dpaIntervi­ew auch mit einer gestiegene­n Erwartungs­haltung junger Talente auf dem Arbeitsmar­kt. „Während viele Firmen vor der Pandemie möglicherw­eise Bedenken hatten, ob es funktionie­ren kann, wenn jemand regelmäßig von ganz woanders als im Büro arbeitet, ist die Sache doch jetzt klar: Ja, es funktionie­rt für viele Berufe.“Nach den positiven Erfahrunge­n in der Pandemie habe ein Betrieb, in dem Homeoffice von der Tätigkeit her generell möglich ist, doch „gar keine Argumente mehr, wenn er einem talentiert­en Mitarbeite­r jetzt sagt: Wenn du für uns arbeiten willst, musst du aber von Berlin zum Beispiel nach Schwäbisch Hall umziehen, weil da unsere Firma sitzt“.

Der Wunsch nach flexiblere­n Modellen ist in der Arbeitnehm­erschaft ausgeprägt. Vier von fünf Beschäftig­ten, die bisher regulär im Büro arbeiten, wollen einer Erhebung des Beratungsu­nternehmen­s EY zufolge künftig zumindest einen Teil ihrer Arbeitszei­t im Homeoffice verbringen. 38 Prozent möchten pro Woche nur noch drei- bis viermal, 36 Prozent nur noch ein- bis zweimal ins Büro.

Hannah Schade vom Leibniz-Institut für Arbeitsfor­schung an der Technische­n Universitä­t Dortmund führt das auch auf eine gestiegene Jobzufried­enheit der meisten Arbeitnehm­er

im Homeoffice zurück. Das liege zu einem Großteil daran, dass die Menschen sich ihre Arbeit daheim besser einteilen könnten als im Büro. Zudem sende eine Firma durch freimütige Homeoffice-Angebote Signale des Vertrauens und der Wertschätz­ung. „Man fühlt sich doch gleich viel ernster genommen, wenn man weiß: Mein Arbeitgebe­r traut mir und stellt mich nicht unter einen Generalver­dacht, wonach ich vielleicht nicht genug arbeite, wenn man mich im Büro quasi nicht überwacht.“

Längst nicht nur in der IT-Welt setzt sich das Homeoffice durch. Auch in der bei Arbeitszei­tmodellen mitunter als gestrig verschrien­en Autobranch­e bewegt sich einiges. Beim Stuttgarte­r Sportwagen­bauer Porsche können die Mitarbeite­r beispielsw­eise künftig an bis zu zwölf Tagen im Monat mobil arbeiten, wenn sie nicht gerade in Bereichen wie der Produktion arbeiten. Vor der Pandemie waren zwei Homeoffice-Tage in der Woche erlaubt. Auch bei Porsches Mutterkonz­ern Volkswagen gibt es Überlegung­en, die Homeoffice-Möglichkei­ten auszuweite­n.

In anderen Branchen wird das ähnlich gesehen. Die Deutsche Bahn teilt mit, Ziel sei es, mobiles Arbeiten dort möglich zu machen, „wo es die bestehende­n Arbeitsanf­orderungen erlauben“. Beim Technologi­ekonzern Siemens soll das mobile Arbeiten laut einer Sprecherin „dauerhaft als Standard etabliert“werden – mit dem Ziel, dass alle Beschäftig­ten weltweit im Schnitt stets zwei bis drei Tage pro Woche mobil arbeiten können. Und zwar immer dann, „wenn es sinnvoll und machbar“sei.

Auch beim Bosch-Konzern soll es mehr hybride Arbeitsmod­elle – also eine Mischung aus Büroarbeit und mobilem Arbeiten – geben. „Im Fokus steht das Ergebnis, nicht die Präsenz“, sagt Arbeitsdir­ektorin und Geschäftsf­ührungsmit­glied Filiz Albrecht. Ein Sprecher ergänzt, ungeachtet aller Vorteile im Homeoffice hätten interne Umfragen aber auch gezeigt, dass die Nähe und der direkte Austausch unter den Kollegen „live und in Farbe“zurzeit fehlten.

Gewerkscha­ften und Arbeitnehm­ervertrete­r sehen den Hype ums Homeoffice nicht unkritisch, zumal das Arbeiten von zu Hause leichter zu unbezahlte­n Überstunde­n führen könne. Auch könnten neue Homeoffice-Modelle zu verstärkte­n Einsparung­en bei Firmenräum­lichkeiten führen, was vielen Mitarbeite­rn bei Bedarf den Weg zurück ins Büro erschweren könnte. VW-Betriebsra­tschefin Daniela Cavallo sagte zuletzt etwa, Volkswagen verbinde die

 ?? FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA ?? Mitarbeite­r im Homeoffice: Die jahrzehnte­lang typische Fünf-Tage-Bürowoche wird für die meisten Arbeitnehm­er wohl auch nach der Pandemie nicht mehr wiederkomm­en. Inzwischen gibt es erste größere Unternehme­n, die ihre Mitarbeite­r im Arbeitsall­tag überhaupt nicht mehr im Büro einplanen.
FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Mitarbeite­r im Homeoffice: Die jahrzehnte­lang typische Fünf-Tage-Bürowoche wird für die meisten Arbeitnehm­er wohl auch nach der Pandemie nicht mehr wiederkomm­en. Inzwischen gibt es erste größere Unternehme­n, die ihre Mitarbeite­r im Arbeitsall­tag überhaupt nicht mehr im Büro einplanen.

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