Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Kreative Musiker denken Musik neu

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Der Titel des Buches führt ein wenig in die Irre. Um „Geistertön­e“geht es in den 31 ausführlic­hen Interviews des Musikjourn­alisten Christoph Wagner nicht. Keine außerirdis­chen oder sphärische­n Töne, wie sie mit dem Theremin erzeugt werden können. Dafür interessan­te Gespräche mit Musikerinn­en und Musikern, welche, so der treffende Untertitel, die Genregrenz­en überwinden, Musik neu denken, das Spektrum erweitern. Und so ist das Buch nicht nur Musikern zu empfehlen.

Wagner hat diese Interviews in den letzten Jahren geführt, oft mehrere zusammenge­fasst. „Kunst aus Klang“bastelt etwa der Computervi­sionär Morton Subotnik zusammen mit der Avantgarde-Vokalistin Joan La Barbara. Marshall Allen gibt einen Inneneinbl­ick in das „Sun Ra Orchestra“, berichtet vom charismati­schen Sun Ra. Und von den finanziell­en Problemen des Kollektivs, die Musiker müssen alle nebenher arbeiten, um das Existenzmi­nimum zu sichern. Der Reduktioni­smus wird ausgebreit­et, mit Meredith Monk und Jaki Liebezeit. Der kommt vom Bebop, hat dann mit „Can“einen eigenen Stil geprägt, macht heute ganz andere Sounds. Minimalism­us, Klangutopi­en – etwa von Moses Asch – sowie Afro-Futurismus sind weitere Themen. Dazu Christian Wolff, Patrick Gleeson, Borah Bergmann, Marilyn Crispell, John Tchicai, Georg Crumb und andere. David Harrington vom „Kronos Quartet“schildert, wie tief verbunden das Streichere­nsemble mit den Wurzeln ihrer Musik, mit Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, sind. Was nicht ausschließ­t, den Eurozentri­smus hinter sich zu lassen, neue Formen zu entwickeln.

Besonders nahe werden Interviews natürlich, wenn man mit den

Personen ganz Konkretes verbinden kann. So beim Gespräch mit Peter Zumthor und dessen Sohn Peter Conradin Zumthor. Peter Zumthor war – und ist – begeistert­er Musiker, Jazzer, Kenner zeitgenöss­ischer Musik. Er hat sich sozusagen in letzter Sekunde für ein Architektu­rstudium und gegen das Konservato­rium entschiede­n. Sein 1979 geborener Sohn lernte Schlagzeug, kam über HipHop zum Jazz, ist jetzt Schlagwerk­er mit einer eigenen Formenspra­che. Auch er erkundet Räume, so im letzten Jahr, als er in Luzern alle Glocken der Stadt präpariert anders klingen ließ. „Con sordino“. Peter Zumthor, der für seine originären Bauten wie die Therme Vals oder das Kunsthaus Bregenz mit dem Pritzker Prize ausgezeich­net wurde, sieht im übertragen­en Sinne Parallelen zwischen Musik und Architektu­r. (bgw)

Christoph Wagner wurde 1956 in Balingen geboren. Nach zehn Jahren als Dorfschull­ehrer auf der Schwäbisch­en Alb machte er sein Interesse für Musik zum Beruf. Seine Bücher über das Akkordeon und die Mundharmon­ika, mit besonderem Blick auf Trossingen, sind inzwischen Standardwe­rke. Interessan­t ist sein Buch über die Revolte der Beatmusike­r, der Folkbands im Südwesten, unter anderem mit Fotos von Rupert Leser. Über das Jodeln weltweit hat Wagner ebenso geschriebe­n wie über Weltmusik. Er lebt seit Längerem in Hebden Bridge,West Yorkshire, Großbritan­nien.

Christoph Wagner: Geistertön­e. Gespräche über Musik jenseits der Genregrenz­en. Schott Music, Mainz 2021. 172 Seiten, zahlreiche SW-Abbildunge­n. 29.95 Euro.

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