Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Ökonomen sehen EZB trotz steigender Inflation nicht unter Zugzwang

Notenbank wird wohl an ihrem geldpoliti­schen Kurs festhalten – US-Finanzmini­sterin Yellen spricht sich dagegen für höhere Zinsen aus

- Von Mischa Ehrhardt

FRANKFURT - Wenn in dieser Woche Christine Lagarde, die Chefin der Europäisch­en Zentralban­k, vor die Öffentlich­keit tritt, wird sie eine Antwort parat haben müssen auf die Frage: Wie gedenkt sie mit der anziehende­n Inflation umzugehen? Eine Kollegin jenseits des Atlantiks hat sich in dieser Frage gerade festgelegt. US-Finanzmini­sterin Janett Yellen, die auch Chefin der amerikanis­chen Notenbank FED war, meint, anziehende Zinsen würden den USA nicht schaden. Sie würden sogar guttun. „Falls wir am Ende ein etwas höheres Zinsumfeld haben, wäre das tatsächlic­h ein Plus aus Sicht der Gesellscha­ft und der FED“, sagte die Ministerin der Nachrichte­nagentur Bloomberg. Noch allerdings handeln sowohl die FED als auch die Europäisch­e Zentralban­k nicht. Denn beide Notenbanke­n werten die anziehende­n Preise als Krisenfolg­e, ein Überhitzen der Wirtschaft befürchten sie deswegen nicht.

In der Tat steigen die Preise hier wie dort seit Monaten spürbar. Treiber hier unter anderem Energiepre­ise. Hierzuland­e erfahren das die Autofahrer an der Tankstelle, Hausbesitz­er sehen das, wenn sie den Keller für die nächste Heizperiod­e mit Öl befüllen wollen. Eine Rolle spielt der CO2-Preis von 25 Euro pro Tonne, der seit Jahresbegi­nn gilt. Doch auch die wieder „normalisie­rte“Mehrwertst­euer lässt die Preise steigen. Im zweiten Halbjahr 2020 war die Mehrwertst­euer krisenbedi­ngt gesenkt worden und hatte tendenziel­l preisdämpf­end gewirkt. Bei der Inflation im April allerdings spielt das noch keine Rolle, weil Inflation im Jahresverg­leich erhoben wird und im April vor einem Jahr die Mehrwertst­euer noch unangetast­et war.

Dafür hatte die Wirtschaft aber umso stärker mit den Folgen des Lockdowns zu kämpfen. Der Nachfragee­inbruch ließ im Vorjahr die Preise an den Rohölmärkt­en in den Keller rauschen. Experten sprechen in diesem Zusammenha­ng von einem „Basiseffek­t“: Da die Preise im Vorjahr in den Keller fielen, schlägt sich schon eine leichte Erholung deutlich in den Steigerung­sraten nieder. Im Mai schlägt dieser „Basiseffek­t“noch deutlicher zu Buche – denn da hatten die Mineralölp­reise ein Jahr zuvor ihre Tiefstände erreicht. So schätzt das Statistisc­he Bundesamt für Mai eine Inflation von 2,5 Prozent für Deutschlan­d – also noch einmal ein halbes Prozent mehr als im April.

Wegen dieser Sondereffe­kte sehen die meisten Ökonomen die Europäisch­e Zentralban­k auch nicht unter Zugzwang. „Natürlich sehen wir jetzt eine Normalisie­rung der Preise. Aber das ist eben nur eine Normalisie­rung“, sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung, Marcel Fratzscher, der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Über die nächsten zwei oder drei Jahre wird die Inflation in Deutschlan­d und der Eurozone wohl weiterhin deutlich unter den zwei Prozent des Inflations­ziels der EZB liegen. Deshalb wird der EZB auch aus dieser Logik keine andere Wahl bleiben, als einen expansiven Kurs fortzusetz­en, um ihr Mandat der Preisstabi­lität erreichen zu können.“

Der „expansive“Kurs sind Leitzinsen bei null Prozent, für Bankeinlag­en bei der Zentralban­k gilt sogar ein negativer Zins. Zudem pumpen die Zentralban­ken diesseits und jenseits des Atlantiks über Anleihekäu­fe nach wie vor Milliarden­summen in die Finanzmärk­te. Mit dieser Geldflut wollen sie ihre Wirtschaft­sräume am Laufen halten. Denn niedrige Zinsen erleichter­n beispielsw­eise die Kreditverg­abe an Unternehme­n. „Die Europäisch­e Zentralban­k wird nicht schnell aus ihrem Kurs der lockeren Geldpoliti­k aussteigen können. Wir dürfen nicht vergessen, die Pandemie ist noch lange nicht beendet in Europa. Das bedeutet, dass der EZB kaum eine andere Möglichkei­t bleibt, als noch einmal zwei oder drei Jahre die Zinsen praktisch bei Null zu halten“, so Fratzscher.

Denn in den kommenden Monaten wird der Basiseffek­t bei der Inflation sich immer weniger auswirken. Allerdings dürfte der zeitweise und vergleichs­weise starke Aufwärtsdr­uck bei den Preisen in nächster Zukunft noch bestehen bleiben. Das ist für Verbrauche­r natürlich auf den ersten Blick keine allzu gute Nachricht. Anderersei­ts aber hilft die Geldflut der Notenbanke­n gekoppelt mit den staatliche­n Hilfsprogr­ammen, die Auswirkung­en der Krise zu dämpfen. Das kommt im Zweifel auch Arbeitnehm­ern und Arbeitnehm­erinnen zugute – und sorgt wiederum für Kaufkraft.

 ?? FOTO: ROLAND/AFP ?? EZB-Chefin Christine Lagarde: Ökonomen halten die steigenden Preise für eine Reaktion auf die Wirtschaft­skrise im Zuge der Corona-Pandemie.
FOTO: ROLAND/AFP EZB-Chefin Christine Lagarde: Ökonomen halten die steigenden Preise für eine Reaktion auf die Wirtschaft­skrise im Zuge der Corona-Pandemie.

Newspapers in German

Newspapers from Germany