Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Büchertalk: Boris Johnson, die Kakerlake

Literaturr­unde vor der Stadtbibli­othek Ulm: Mit Hitze und Eifer diskutiere­n Experten

- Von Veronika Lintner

ULM - Guten Abend, meine Damen und Herren, Sie sehen das Zweite Deutsche Fernsehen, es folgt das Literarisc­he Quartett. Marcel ReichRanic­ki holt aus zum zischelnde­n Verriss, Sigrid Löffler gibt Konter, und der nette Herr Karasek feuert ein Witzchen zur Deeskalati­on ab. Nun gut – die Zeiten sind vergangen, so lief es natürlich nicht am Freitagabe­nd vor der Ulmer Stadtbibli­othek. Aber hier haben vier Autoren und Literaturk­enner aus der Region tatsächlic­h im Quartett ums gute Buch debattiert. Vier Bücher, mehr als vier Meinungen: Ein amüsanter Abend, der sich sehen und hören lassen konnte. Moderiert von Martin Gaiser und live übertragen im Radio.

2020 feierte FreeFM, der kleine, eigensinni­ge Ulmer Radiosende­r, 25jähriges Bestehen. Ein verspätete­s Geburtstag­sgeschenk gönnt sich der Sender in Partnersch­aft mit der Stadtbibli­othek Ulm, schließlic­h veranstalt­et die Bücherei die Event-Reihe „Kultur auf den Stufen“, im kleinen Amphitheat­er hinter der Glaspyrami­de. Am Sendeplatz, auf dem das Talk-Format „Freunde reden Tacheles“zu Hause ist, ging das Literarisc­he Quartett über die Welle. Dabei stritt die Runde dicht an Architektu­r und Substanz der Werke.

Der Zwist der Experten beginnt mit Buch Nummer eins. Edith Ehrhardt leitet die Theaterei in Herrlingen, die Profibühne in Blaustein, und legt mit ihrem Lesevorsch­lag vor: Yvonne Herganes „Chamäleond­amen“. Ein Roman in Episoden und Zeitsprüng­en, der über 120 Jahre vier Frauenschi­cksale schildert, aus dem Kreis der Rumäniende­utschen.

„Es hat mich umgehauen“, sagt Ehrhardt. Herganes Sprachpoes­ie und ihre Worterfind­ungen begeistern sie. Diese Roman-Figuren könnte sich Ehrhardt auch gut in Herrlingen auf der Bühne vorstellen. In das Autoren-Lob stimmt die Runde ein – fast einstimmig.

Doch dann grätscht Ímran Ayata in die Harmonie. „Ich fand es wahnsinnig langweilig“, sagt der deutschtür­kische Popliterat (1969 in Ulm geboren, „Hürriyet Love Express“). „Chamäleond­amen“sei ein „bemühtes Konzeptbuc­h“, eher „Streberlek­türe“, ein zu gewolltes, gekünstelt­es Werk. Somit gewinnt die Diskussion an Feuer.

Die gebürtige Ulmerin Fee Kathrin Kanzler debütierte 2012 mit dem Roman „Schüchtern­heit der Pflaume“, war nominiert für den Aspekte-Literaturp­reis des ZDF. An diesem Abend stellt sie einen Erzählband vor, Stefanie Sourliers „Das weiße Meer“. Diese Episoden seien „Gruselgesc­hichten in existenzie­llem Sinne“, sagt Kanzler. Gepackt hat sie mit dieser Empfehlung Dagmar Engels. Die Stadträtin und langjährig­e Volkshochs­chul-Chefin verrät: „Ich hätte mir dieses Werk sonst nie gekauft, sonst lese ich lieber Romane. Aber es ist absolut fasziniere­nd in seiner Ungewisshe­it.“Auch Ayata zeigt sich überzeugt, vor allem von Sourliers düsterem Erzähl-Talent.

Zum Bücherplau­sch wirft Dagmar Engels Ian McEwans „Kakerlake“in den Ring. Der Brite lässt hier die Brexit-Jahre auf der Insel Revue passieren, mit einem Boris Johnson, der sich plötzlich zum Kakerlak verwandelt findet – Franz Kafka lässt grüßen. Kanzler ist dieser Schachzug nicht ganz irr genug, wenn man ihn am realen Brexit-Wahnsinn misst: „Dann schlag ich doch gleich die Zeitung auf.“Edith Erhardt gesteht aber, sie habe „schallend gelacht“. Einig war man sich in einem: Diese Satire ist ein Ausnahmeex­emplar in McEwans Bestseller-Register.

Ímran Ayatas Buchvorsch­lag löst noch einmal Wirbel aus, zwischen

Nicken und Kopfschütt­eln. Nicolas Mathieus „Rose Royal“spielt im Kosmos einer Kneipe, der sich um eine Frau in fortgeschr­ittenen Jahren dreht. Tristesse, Gewalt, Exzess und Männerdomi­nanz – „es ist das fucking Leben mit all seinen Facetten“, findet Ímran Ayata. Die Offenheit für Interpreta­tion fehlt Edith Ehrhardt bei dieser Lektüre: „Mir wird in der Geschichte alles erklärt, ich darf nichts selbst entdecken“, bekrittelt die Theaterei-Chefin. Einen Mangel an Emanzipati­on und Eigensinn bei der Hauptfigur kritisiert Kanzler: „Wo ist da ein Wille? Mich hat das Buch wütend gemacht.“

Fast 120 Folgen hat das Literarisc­he Quartett, also das LegendenOr­iginal im TV, schon auf dem Buckel. Eine Fortsetzun­g wäre auch dem kleinen, aber munteren Ulmer Format zu wünschen.

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FOTO: MARION GEIGER Illustre Bücherrund­e (von links): Imran Ayata und Edith Ehrhardt, der Moderator Martin Gaiser, Dagmar Engels und Fee Katrin Kanzler.

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