Wo Mark Twain den Sonnenaufgang verschlafen hat
Seit 150 Jahren fährt eine Zahnradbahn auf die Rigi am Schweizer Vierwaldstättersee
● s mag vermessen erscheinen, sich mit Mark Twain in eine Reihe zu stellen. Schließlich war er ein gefeierter US-amerikanischer Schriftsteller und kein kleines Schreiberlein einer Tageszeitung. Und trotzdem kann diese Reisereportage nicht ohne den großen Literaten auskommen. Denn auch Mark Twain bereiste einst Luzern und erklomm die Rigi, neben dem Pilatus der zweite Hausberg dieser Schweizer Stadt am Vierwaldstättersee. Das war 1878. Festgehalten hat Twain, der im richtigen Leben Samuel Langhorne Clemens hieß, seine Erlebnisse in dem Büchlein „Ein Bummel durch Europa“. Der geneigte Leser erfährt darin auch von einer Zugfahrt auf die Rigi. Der Zug kämpft sich heute noch den Berg hinauf und ist angeblich die älteste Zahnradbahn der Welt. 2021 wird die Rigi-Bahn 150 Jahre alt. Der Amerikaner würde staunen, denn die Salonwagen und dampfbetriebenen Loks aus seiner Zeit sind zum Jubiläum wieder auf den schmalen Schienen unterwegs.
Efür die beiden Männer im Führerstand. Sie strahlen mit ihrer auf Hochglanz polierten Zugmaschine trotzdem um die Wette. Eigentlich ist Lok 7 1937 ausrangiert worden und steht seit 1959 im Verkehrshaus der Schweiz in Luzern. Doch zum 150Jahr-Jubiläum durfte sie auf die Rigi zurückkehren, um erneut Gäste auf die Königin der Berge zu transportieren. Stilecht in liebevoll restaurierten historischen Salonwagen.
Bei Sonderfahrten mit dem Zug, die in diesem und auch im nächsten Jahr immer am Freitagabend stattfinden oder für Gruppenevents extra gebucht werden können, ist Niklaus Riggenbach (alias Schauspieler Thomy Widmer) höchstselbst an Bord. Er passt in diesen Belle-Époque-Salonwagen wie die Faust aufs Auge: dunkler Anzug, Gehstock, Fliege, grauer Backenbart. „Grüezi mitanand“, begrüßt er die Zugreisenden und beginnt sofort, Anekdoten aus seiner Zeit zu erzählen. Natürlich spielt dabei der spektakuläre Bahnbau eine wichtige Rolle („Meine größte Erfindung war eigentlich die verschleißfreie und ruckelarme Bremse.“). Aber die Gäste erfahren von ihm auch viel über die Person Riggenbach selbst, über den Berg Rigi, „der aufgrund seiner Geologie nicht zu den Alpen zählt“, und natürlich über die Rigi-Bahn, wie sie sich heute präsentiert. 1937 ist sie elektrifiziert worden und braucht nur noch eine halbe Stunde bis zum Gipfel. Doch im Lokschuppen in Vitznau stehen außer der Lok 7 noch zwei weitere Dampflokomotiven, die gehegt und gepflegt werden und regelmäßig zum Einsatz kommen. Auch Mark Twain findet in Riggenbachs Anekdoten Erwähnung. „Der Adel,
Könige, selbst der Papst ließen sich in Sänften auf die Rigi tragen. Twain aber ist hochgewandert und im Kulm-Hotel abgestiegen. Er wollte dort oben unbedingt den sagenhaften Sonnenaufgang erleben.“
In diesen Augenblicken waren wir so völlig in das Wunder vor uns vertieft, dass wir gegen alles andere unempfindlich waren. Die große, wolkenbedeckte Sonnenscheibe stand gerade über der grenzenlosen Weite der hin und her wogenden Schaumwellen. Es war ein wallendes Chaos massiger Bergdome und -gipfel, gewandet in ewigen Schnee und überflutet von dem opalen Glanz wechselnder, sich allmählich lösender Pracht. Durch die Risse in einer schwarzen Wolkenwand über der Sonne schossen blendende Lanzen aus diamantenem Staub empor zum Himmelsgewölbe. Das ganze Land war in ein sanftes, reiches, weltfreudiges Paradies verwandelt. (aus „Ein Bummel durch Europa“)
Den Worten Mark Twains wäre nichts hinzuzufügen. Viel treffender und poetischer kann man das Gesehene wohl kaum beschreiben. Die Sache hat allerdings einen Haken: Twain hat den Sonnenuntergang erlebt! Nach dem anstrengenden Aufstieg hat er den ganzen Tag verschlafen und ist erst zur Abenddämmerung erwacht in dem Glauben, es sei früher Morgen und er erlebe endlich den „alpinen Sonnenaufgang“. Doch sein Reisebegleiter Harris rief plötzlich: „Mein Gott – sie geht unter!“
Wir dagegen sind rechtzeitig aus den Federn gekrochen und haben uns vom Kulm-Hotel aus auf das kurze Stück Weg Richtung Gipfelkreuz gemacht. Wir sind nicht alleine. Mountainbiker strampeln in aller Herrgottsfrühe die Rigi hinauf. Wanderer haben am Abend zuvor am Gipfel ihr Biwak aufgeschlagen, um bloß nichts zu verpassen. Fast alle
Hotelgäste sind schon wach. Ganz langsam schiebt sich die Sonne zwischen den Bergkämmen hoch, verdrängt die Wolken und taucht den Himmel zuerst in ein dunkles Rosa, später in sattes Orange. Mit den Worten Twains kann diese Schreiberin nicht konkurrieren. Nur so viel: Die Rigi liegt wie eine Insel mitten in der Bergwelt der Zentralschweiz. Um sie herum türmen sich unzählige Gipfel, zu ihren Füßen liegen ringsum 13 Seen. Entsprechend faszinierend ist die Szenerie morgens um sechs Uhr, wenn der Tag langsam Oberhand über die Nacht gewinnt.
Doch auch am helllichten Tag hat die knapp 1800 Meter hohe Rigi ihre Reize. Nicht umsonst ist sie der Familien-Wanderberg der Luzerner schlechthin. Leicht begehbare Wege schlängeln sich durch Almwiesen hinauf und hinab, vorbei an Sennerhütten, in denen man beim Käsemachen zuschauen kann, an Gaststätten, einem sehenswerten, zu einem Hotel gehörenden großen Kräutergarten, kleinen Ferienhäusern. Kuhglockengeläut wechselt sich ab mit den grellen Pfiffen der Rigi-Bahn. Kinder pflücken Blumen, Erwachsene genießen entspannt die Berg- und Seenwelt ringsum. Oder um es mit Mark Twain zu sagen:
Eine imposante Masse von sechstausend Fuß Höhe, die aus sich selbst heraus steht und die gewaltige Fernsicht über blaue Seen, grüne Täler und schneeige Berge beherrscht, ein herrliches, buntes Kolossalgemälde von dreihundert Meilen Umfang.
Weitere Informationen unter
Die Recherche wurde unterstützt von den Rigi Bergbahnen und Luzern Tourismus.