Barfuß durchs Paradies
Unten ohne wandern bringt ganz neue Erfahrungen – eine Runde am Mindelsee
● icht weit entfernt von Möggingen bei Radolfzell liegt der Wanderparkplatz, an dem wir starten. Die Informationstafel verspricht eine landschaftlich reizvolle Schutzlandschaft und zählt botanische Kostbarkeiten wie den Schwalbenwurz-Enzian und gefährdete Orchideenarten auf. Das rund 450 Hektar große Gebiet ist auch als „International bedeutendes Feuchtgebiet für Wat- und Wasservögel“ausgezeichnet. Alleine 90 verschiedene Vogelarten sind hier zu Hause. Das klingt vielversprechend. Außerdem ist heute Wellness für die Füße angesagt, und so wandern unsere Schuhe erst einmal in den Rucksack. Barfußlaufen geht fast überall, auch auf Wegen, die nicht speziell als Barfußpfade ausgeschildert sind, es macht Spaß und stärkt die Selbstwahrnehmung. Also los und einen Fuß vor den anderen setzen!
Der Wanderweg führt uns Richtung Mindelsee, wo parallel zum gekiesten Weg auch ein grasbewachsener Feldweg verläuft. Automatisch gehen unsere Blicke nach unten zu den Füßen, denn schon ein kleiner Kiesel pikst ganz schön. Doch dann lässt sich der Kiesweg nicht mehr vermeiden. Da die Tour knapp neun Kilometer lang ist, ziehen wir die Schuhe erst einmal wieder an. Wer das Laufen auf bloßen Sohlen nicht gewohnt ist, sollte nicht übertreiben, denn die unterschiedlichen Reize des Waldbodens sind für die Füße anstrengend.
Kurz bevor wir über den Parkplatz am Waldfriedhof und in den Wald hineingehen, sehen wir ein paar Ziegen, die auf einer Weide grasen. Diese naturverträgliche Beweidung findet sich rund um den See. Da ein Tier seinen Hals ganz schief hält, schauen wir genauer hin. Panik ist nicht angesagt, denn auf einem Schild lesen wir: „Der Ziege mit dem krummen Hals geht es gut! Bitte nicht die Polizei, das Veterinäramt oder sogar die Tierrettung anrufen. Danke.“Das braune Tier hat seine Schiefstellung durch eine Lähmung bekommen. Na so was.
Auf einem Waldweg in unmittelbarer Nähe zum See laufen wir weiter. Am Ufer lädt eine Vesperstelle zur Rast ein, rechts spendet der Buchenhochwald Schatten und gefallene Baumstämme säumen das Ufer. Sie liegen wie übergroße MikadoStäbe übereinander. Da die Wälder größtenteils als Bann- und Schonwald ausgewiesen sind, bleibt Totholz
Neinfach liegen – als Grundlage für neues Leben. Denn wer genau hinschaut, sieht Pilze und Moose wachsen und kann sich vorstellen, wie die Wälder vor Jahrhunderten ausgesehen haben. Hier ist die Natur wieder auf dem Vormarsch und hat Vorrang.
Am östlichen See-Ende wird der Weg schmaler und schlängelt sich durch das Schilf. Die Natur birgt hier im Verlandungsgebiet immer neue Schönheiten. Jetzt durchqueren wir sogar eine Birkenallee. Der weiche, teilweise matschige Boden ist ideal für nackte Füße, und der Weg sieht gar nicht so steinig aus. Also ziehen wir die Schuhe wieder aus. Die Füße machen allerdings ihre eigene Erfahrung. Da hilft auch der Blick nach unten nichts, die kleinen Quälgeister in Kieselform malträtieren unsere Füße. So manch entgegenkommender Wanderer blickt irritiert auf unsere blanken Sohlen. Unsere Augen nehmen die Umgebung jetzt kaum wahr und suchen lieber den Untergrund ab – kommt da etwas Spitzes oder eine Pfütze? Die unteren Gliedmaßen sind die Hauptakteure und sammeln über ihre Rezeptoren ungewohnt viele Informationen – sie haben an der Bewegungskoordination einen ebenso wichtigen Anteil wie das Gleichgewichtssystem.
Normalerweise nehmen die Schuhe den Füßen viel Arbeit ab, indem sie Unebenheiten weniger spürbar machen. Dabei gehen detailliertere Wahrnehmungen zur Beschaffenheit des Bodens verloren und die Selbstwahrnehmung gleich mit. Mit jedem gefühlten Meter gewöhnen wir uns an das neue Gefühl. Dann lichtet sich auf der anderen Seeseite der Wald und über uns zieht ein Milan seine Kreise. Eine Eidechse sonnt sich auf einem Stamm und lässt sich von uns nicht stören.
Ein Schotterweg führt zum Dürrenhof und direkt zum Rosenstüble, einem kleinen Selbstbedienungscafé. Die Mindelsee-Runde biegt allerdings auf den Waldpfad ein. Ab und zu blitzt das Wasser des Sees durch das Dickicht. Ein bisschen sieht es aus wie in Schweden oder in den Masuren. Doch linker Hand ruht der in der Eiszeit entstandene, rund zwei Kilometer lange Mindelsee, ausgeschürft vom großen Rheingletscher. Nach und nach wird er wieder versanden, wie wir an den schmalen Seeseiten bereits sehen können. Es gibt nur wenige natürliche Seen dieser Größe in Baden-Württemberg. Der Mindelsee ist einer der wenigen, der nicht umbaut ist. Auf einem Wiesenweg geht es in Ufernähe durch Moorwiesen, Busch- und Auwald. Ein Eichhörnchen huscht über den Weg und klettert blitzschnell den nächsten Baumstamm nach oben.
Am Westende gibt es eine Badestelle mit Steg. Das Wasser des Sees ist klar und samtweich. Es bekommt jedes Jahr früher seine angenehme Badetemperatur als der Bodensee. Für den restlichen Weg holen wir die Schuhe wieder aus dem Rucksack, denn die Füße müssen sich erst an die ungewohnte Freiheit gewöhnen. Jetzt genießen wir die Ausblicke auf das Naturschutzgebiet mit seinen Schilfregionen und Riedwiesen. Rechts liegen Felder und Obstgärten.
Wer öfter die Schuhe weglässt, tut dem ganzen Körper etwas Gutes. Inzwischen kribbeln unsere Sohlen ganz schön – ein kurzes Fußbad im See wirkt Wunder.
Vom Parkplatz am Ortsrand von Möggingen sind es
Kilometer um den Mindelsee. Einen Abstecher wert ist der Streuobst-Sortengarten Möggingen.
knapp neun