Kein Ruhestand für den Rastlosen
Minister Gerd Müller nimmt nach 27 Jahren Abschied von Berlin, aber nicht von der Entwicklungspolitik
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BERLIN - Für die Personenschützer des Bundeskriminalamtes muss die Reise in den Nordirak das Grauen gewesen sein. Ein Minister, mitten in den unübersichtlichen Ruinen der zerstörten Stadt Mossul. Die meisten anderen in der Gruppe überragte er um mindestens einen Kopf – da hilft die Schutzweste am Oberkörper wenig. Doch Gerd Müller machte sich in diesem Moment offensichtlich nicht allzu große Gedanken um seinen eigenen Schutz. Er ließ sich neben dem Betongerippe eines früheren Krankenhauses interessiert die Sprengfallen erklären, die als Hinterlassenschaft der Terrormiliz „Islamischer Staat“in Mossul zurückgeblieben waren. Auch das Wissen, dass sich nach wie vor IS-Kämpfer in der Gegend versteckt hielten, schreckte den Entwicklungsminister nicht von seinem Besuch im April 2018 ab. Da war die Stadt gerade einmal vor zehn Monaten aus der Hand der Islamisten befreit worden.
Gerd Müller hatte bei seinem Besuch eine Botschaft: Er wollte, dass die Welt davon erfährt, was die Menschen im Irak erlitten haben, vor allem auch die kleine Volksgruppe der Jesiden, die Opfer eines Völkermordes wurde. Und er wollte zeigen, warum es so wichtig ist, dass Deutschland, aber auch Europa und die ganze Weltgemeinschaft vor Ort helfen, wenn Menschen in Not sind. Dieses Vorgehen ist typisch für den CSU-Politiker: Wenn er sich etwas vorgenommen hat, dann verfolgt er dieses Ziel konsequent, man kann auch sagen, mit bayerischer Sturheit. Auch wenn es für ihn gefährlich werden könnte – oder zumindest politisch ungemütlich.
„Ich habe aus meinem Amt das gemacht, was mir möglich war, nach der Papstvorgabe ,Laudato si‘ – Verantwortung an Deiner Stelle. Da muss man auch mal laut werden“, sagt der Minister der „Schwäbischen Zeitung“am Dienstag. Vor einem Jahr hat er, für viele überraschend, angekündigt, nach 27 Jahren im Bundestag nicht mehr kandidieren zu wollen – und Abschied zu nehmen von der Bundespolitik. Doch den Ruhestand strebt der 66-Jährige, der vor seiner Zeit im Bundestag fünf Jahre Europaabgeordneter war, noch nicht an. Er wird Generalsekretär der Unido, die ihren Sitz in Wien hat, einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen für die industrielle Entwicklung.
Wer mit dem CSU-Politiker aus dem Wahlkreis Oberallgäu, der verheiratet ist und zwei Kinder hat, in der weiten Welt unterwegs ist, sollte Energie haben, auch in Form von essbaren Riegeln. Wenn Gerd Müller in asiatischen oder afrikanischen Ländern vor Ort ist, will er möglichst viel mit eigenen Augen sehen, er möchte es genau wissen, wie die Arbeitsbedingungen in Textilfabriken oder beispielsweise in einem geförderten Projekt zur Verarbeitung von Cashewnüssen in Ghana sind. Er fragt Näherinnen und Arbeiter, ob sie mit ihrem Job zufrieden sind und davon auch leben können. Pausen gönnt er sich so gut wie keine, sein Tempo ist enorm. Deshalb kann es als Begleitung
sinnvoll sein, Reiseproviant in der Tasche zu haben.
Das Tempo, das er selbst vorlegt, würde er sich auch von anderen Politikern wünschen, die noch mehr als er Einfluss nehmen könnten auf das Weltgeschehen. Damit der Klimaschutz vorankommt, damit nicht so viele Menschen hungern müssen, damit faire Löhne bezahlt werden und damit der Reichtum etwas gerechter verteilt ist auf dieser Erde. Müllers Themenliste ist lang und lässt sich, das ist ihm bewusst, nur im Verbund mit anderen abarbeiten. Doch nicht alle Kollegen am Kabinettstisch konnten in den vergangenen Jahren nachvollziehen, dass ihm auch faire Löhne in Afrika, Asien und Südamerika ein Herzensanliegen sind – und nicht nur die Interessen der heimischen Wirtschaft in Deutschland. Bestes Beispiel dafür: der Widerstand gegen das Lieferkettengesetz.
„Eine Näherin in Äthiopien verdient 15 Cent pro Stunde, arbeitet sechs Tage in der Woche und hat am Ende des Monats Probleme, ihre Familie zu ernähren. Das können wir doch nicht einfach so hinnehmen“, sagte Müller in einem Interview in der „Schwäbischen Zeitung“im Jahr 2018. Es dauerte aber noch drei weitere Jahre, bis das Lieferkettengesetz kurz vor dem Ende der Legislaturperiode verabschiedet werden konnte. Der Gegenwind kam bei diesem Projekt, das Müller zusammen mit SPDArbeitsminister Hubertus Heil vorantrieb, nicht vom politischen Gegner, sondern aus der Union selbst – in Person des CDU-Wirtschaftsministers Peter Altmaier.
Da mussten dicke Bretter gebohrt werden, bis nach langem Hin und Her und etlichen Kompromissen das Vorhaben durchs Kabinett ging. Seither sind große Unternehmen verpflichtet, während der gesamten Lieferkette, sprich vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt, auf Menschenrechte zu achten. In Müllers Augen hat sich der Kampf gelohnt. Langfristig werde das „die größte Wirkung in der Schaffung von Arbeitsplätzen und in der gerechteren Verteilung von Arm und Reich haben“, sagt er. „Das sind Strukturen, die grundlegende Veränderungen für eine gerechte Globalisierung herbeiführen.“
Auch der Grüne Knopf, das erste staatliche Textilsiegel in Deutschland, mit dem nachhaltig produzierte Textilien gekennzeichnet werden können, geht auf die Initiative des Entwicklungsministers zurück. Nach zwei Jahren haben sich 78 Unternehmen zertifizieren lassen. 150 Millionen Textilien seien bis zum zweiten Jahrestag am 9. September verkauft worden, vermeldete das Ministerium vor Kurzem stolz. Einige Nichtregierungsorganisationen sehen den Grünen Knopf allerdings mit Skepsis, weil er mit Blick auf die Menschenrechte nicht das halte, was er verspreche. Eine Einschätzung, die der Minister, wenig überraschend, nicht teilt. Der Grüne Knopf sei eine Erfolgsgeschichte, so Müller.
Gerd Müller, wer diesen Namen googelt, stößt als Erstes auf eine lange Liste von Artikeln über den Fußballspieler, der vor wenigen Wochen mit 75 Jahren verstorben ist.
Den gleichnamigen Entwicklungsminister muss man dagegen fast suchen, was darauf schließen lässt, dass sein Bekanntheitsgrad größer sein könnte. Dass ihm der andere Müller in der Internetpräsenz meilenweit voraus ist, stört den Minister allerdings kein bisschen. „Gerd Müller war mein Jugendvorbild“, sagt er. Er sei immer „richtig stolz“gewesen, denselben Namen wie die Fußballlegende zu haben. Von dessen weltweiter Popularität profitiere er auch als Entwicklungsminister. „Dieser Name öffnet mir heute noch Türen in Afrika, in China, auf der ganzen Welt.“Durch viele dieser Türen ist er gegangen während seiner Amtszeit.
Wer den Minister in den vergangenen Jahren begleitet hat, war immer wieder beeindruckt, vielleicht sogar überrascht, mit welchem Feuereifer der gebürtige Krumbacher aus Bayerisch-Schwaben für den afrikanischen Kontinent wirbt. Afrika ist für ihn – trotz aller offensichtlichen Probleme – ein Kontinent mit gigantischen Chancen für die deutsche
Wirtschaft. „Von den zehn der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften sind fünf auf dem afrikanischen Kontinent, Afrika hat weltweit das zweitgrößte Wachstum nach Ostasien“, sagte er 2018 im Interview. Mit einem „Marshallplan mit Afrika“wollte er eine wirtschaftliche Entwicklung „auf Augenhöhe“vorantreiben, unter anderem um Fluchtursachen auf dem Kontinent zu bekämpfen. Doch auch das erwies sich als zähes Unterfangen. Die Unternehmen, die es braucht, um Arbeitsplätze in Ländern wie Ghana und Elfenbeinküste zu schaffen, hielten sich zurück. Dann kam die Corona-Pandemie und machte vieles zunichte.
Doch Gerd Müller wird auch weiterhin dafür kämpfen, Arbeitsmöglichkeiten dort zu schaffen, wo Millionen junger Menschen Jobs brauchen, um sich und ihre Familien ernähren zu können – künftig eben nicht mehr als deutscher Entwicklungsminister, sondern an der Spitze der Unido. Diese UNSonderorganisation hat die Aufgabe, in ärmeren Ländern eine nachhaltige industrielle Entwicklung zu fördern. Dass er als erster Europäer und Deutscher zum Generalsekretär der Organisation gewählt wurde, freut Müller – die neue Aufgabe reizt ihn. „Das ist die natürliche Fortsetzung meiner Arbeit auf UN-Ebene“, sagt er. „Es wäre schade gewesen, wenn ich meine Erfahrungen, Kontakte, mein Wissen einfach mit in den Lehnstuhl genommen hätte.“
Wer ihm zuhört, hat allerdings recht schnell den Eindruck, dass es noch etwas anderes als Wissen und Kontakte sein muss, was ihm das Politikrentner-Dasein verleidet. Bei seinen Reisen hat der Entwicklungsminister viel Elend auf dieser Erde gesehen, Menschen, die in erbärmlichsten Verhältnissen leben, weil sie wegen Kriegen, Hungersnöten und anderer Katastrophen ihre Heimat verlassen mussten. Die keine Chance haben, aus eigener Kraft aus ihrer Misere herauszukommen. Die leiden, weil sie Opfer von ungezügelten Machtinteressen wurden – oder bereits jetzt die Folgen des Klimawandels tragen, der vor allem von den Industriestaaten verursacht wurde. Diese Bilder scheinen für den CSU-Politiker ein fortwährender Antrieb zu sein, weiterzumachen im Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit. Denn Müller, dessen Eltern selbst Landwirte im Allgäu waren, ist davon überzeugt, dass die Erde sehr viel mehr Menschen ernähren könnte, wenn es gerechter zuginge.
„Eine Welt ohne Hunger und die Linderung des Flüchtlingsleids in den großen Flüchtlingszentren der Welt“, antwortet er auf die Frage, welches Vorhaben für ihn in den vergangenen acht Jahren als Entwicklungsminister das wichtigste war. „Klimawandel und Hunger gehören zusammen. Wo Hunger, Not und Elend herrscht, kommt es zu Aggressionen und Krieg – siehe Mali und die Sahelregion. Und wo es Hunger, Not und Krieg gibt, entstehen Fluchtbewegungen“, sagt er. Diese Zusammenhänge müssten in Zukunft noch sehr viel stärker berücksichtigt werden.
Er weiß, dass er seiner Nachfolgerin oder seinem Nachfolger ein großes Paket ungelöster Probleme übergeben wird, auch weil die Corona-Pandemie die Ärmsten der Armen hart getroffen hat. Müller will nach dieser Krise wieder den Turbo einlegen – wie jetzt schon im Gespräch. In seinem eindringlichen Appell-Ton, in dem jedes Wort eine Botschaft ist, fordert er eine bessere globale Vernetzung, um Probleme wie den Klimawandel und die Pandemie in den Griff zu bekommen. Es brauche einen „internationalen Verbund“, um Fortschritte zu erzielen. Für ihn sei es nicht nachvollziehbar, „dass wir so viele Themen so regional und provinziell angehen“. Diese Aufgabe wird ihn auch als Unido-Generalsekretär begleiten.