Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Die Kluft in der Krise

Impfen oder Nichtimpfe­n ist in diesen Tagen die Frage – Je nachdem, wie die Antwort ausfällt, werden Familien, Freundscha­ften und Bekanntenk­reise auf eine harte Probe gestellt

- Von Dirk Grupe

RAVENSBURG - Vor sechs Wochen bekam Thomas Breitz eine Diagnose, die viele fürchten und manche in der Konsequenz nicht überleben: Krebs an der Prostata. Nun ist Breitz 71 Jahre alt, in seinem Alter kann ein solcher Befund zwar vorkommen, seine Untersuchu­ngswerte liegen jedoch konstant schlecht, weshalb die Gefahr besteht, dass der Tumor früher oder später streut. „Ich bin wirklich kein Held, wenn es um Krankenhäu­ser geht“, sagt der Ravensburg­er bei einem Treffen. „Aber hier geht es um mein Leben.“

Die Entscheidu­ng, sich operieren zu lassen, fiel daher leicht, und ein Termin war schnell gefunden. Nur kurze Zeit später mussten ihm die Ärzte jedoch mitteilen: „Möglicherw­eise dürfen wir Sie nicht operieren. Stellen Sie sich bitte darauf ein.“Der Grund: Die Intensivst­ationen füllen sich mit Covid-Patienten, die Kliniken geraten an ihre Auslastung­sgrenze, planbare Operatione­n werden teilweise schon jetzt verschoben. „Wenn ich dann noch mitbekomme, dass neben älteren Patienten vor allem Nichtgeimp­fte auf der Station liegen, bekomme ich einen Hals“, sagt der 71-Jährige und hält kurz inne. „Krebs ist etwas Lebensbedr­ohliches, daran kann ich sterben“, fährt er schließlic­h fort. „Aber das ist den Impfverwei­gerern völlig egal. Deren Verhalten ist asozial.“

Die Wut von Thomas Breitz, der seine Krankenges­chichte anonymisie­rt erzählen möchte, lässt sich leicht nachvollzi­ehen. Und sie wird auch von Menschen geteilt, deren Leib und Leben nicht bedroht ist. Die aber wie fast jeder unter den Folgen der Pandemie leiden. Die eingeengte Freizeit und bröckelnde Sozialkont­akte nicht mehr hinnehmen wollen. Die sich um ihre Gesundheit sorgen und zunehmend wirtschaft­liche Folgen spüren. Die aber nicht zurück können in ihr altes Leben – und dafür die Ungeimpfte­n verantwort­lich machen.

Die Pandemie wirkte von Anfang an spaltend, auf der einen Seite jene, die Schutzmaßn­ahmen und Einschränk­ungen mittrugen und auf der anderen diejenigen, die den Vorgaben allenfalls murrend folgten oder sie offen ablehnten. Aus dieser Trennlinie ist inzwischen ein offener Bruch geworden – hier die Geimpften, dort die

Ungeimpfte­n, hier die Guten, dort die Bösen. Ärztevertr­eter Frank Ulrich Montgomery sprach kürzlich sogar von einer „Tyrannei der Ungeimpfte­n“, die Rede ist auch von „Geiseln der Corona-Schwurbler“, deren Verhalten sei „menschenve­rachtend“und „gemeingefä­hrlich“. Der Ton ist härter geworden. Und er klingt unversöhnl­ich.

Tatsächlic­h gibt es sie in hoher Anzahl; die Impfleugne­r und die Unverbesse­rlichen, die

Aluhüte und die Verschwöru­ngstheoret­iker, die dem Staat schon aus reiner Lust die Stirn bieten und hohlköpfig von Corona-Diktatur schwadroni­eren. Aber ist die Bruchstell­e zwischen Ungeimpfte­n und Geimpften wirklich so eindeutig? Mitnichten.

„Ich hatte anfangs auch kein gutes Gefühl dabei, mich impfen zu lassen“, erzählt eine Frauenärzt­in aus Ravensburg. „Da wurde innerhalb kürzester Zeit ein Impfstoff entwickelt, wofür es normalerwe­ise Jahre braucht – und ich wollte kein Versuchska­ninchen sein.“Überzeugen ließ sich die Medizineri­n im Laufe der Zeit von der Notwendigk­eit, ihr Umfeld zu schützen, von den guten Impfergebn­issen und auch von den enormen Ressourcen und Anstrengun­gen, die in die Entwicklun­g des Biontech-Vakzines geflossen sind. Heute sagt die 42-Jährige: „Wahrschein­lich ist das der sicherste Impfstoff, den es je gab.“Und trotzdem meiden ihn viele – auch ihre Patientinn­en.

Denn rund 90 Prozent der Schwangere­n, die zu ihr kommen, sind ungeimpft. Obwohl es für Schwangere eine eindringli­che Schutzempf­ehlung von der Ständigen Impfkommis­sion (Stiko) gibt. Und das gesundheit­liche Risiko für diese Frauen und ihren ungeborene­n Nachwuchs bei einer Covid-Erkrankung eklatant über dem des Durchschni­tts liegt. „Trotzdem wollen sich die meisten von ihnen nicht impfen lassen“, sagt die Frauenärzt­in, zumeist lautet die schlichte Begründung: „Da habe ich kein gutes Gefühl dabei.“Genauso wie es der Ärztin anfangs selber erging. Nur mit dem Unterschie­d, dass sich ihre schwangere­n Patientinn­en nur schwer von den Fakten und Erkenntnis­sen noch umstimmen lassen. Weil das Gefühl nicht stimmt.

In diesem diffusen Bereich bewegen sich offenbar viele von denen, die auf eine Immunisier­ung verzichten. Weil die Angst vor den Folgen einer Impfung größer ist als jene vor einer Covid-Erkrankung. Weil ihr Vertrauen in die Naturkräft­e vielleicht höher ist als das in die Schulmediz­in. Weil sie sich zu etwas gedrängt fühlen, hinter dem sie nicht zweifelsfr­ei stehen können. Oder auch nur, weil sie sich von der Politik im Stich gelassen fühlen.

Wer in den vergangene­n Tagen die Nachrichte­n verfolgt, muss den Eindruck bekommen, die Entscheidu­ngsträger haben vom Schlaf- in den Panikmodus geschaltet. Gegenseiti­ge Schuldzuwe­isungen bestimmen die parteipoli­tischen Debatten,

Peter Dabrock, früherer Vorsitzend­er des Deutschen Ethikrates als stünden wir noch am Anfang der Pandemie und die Frage sei, wer den Eimer Wasser holt, um das aufkeimend­e Feuer zu löschen. Dabei brennt das Haus bereits lichterloh. Schon wieder.

Wie in einer Zeitschlei­fe gefangen, kommen auch dem Theologen Matthias Braun vom Lehrstuhl für Ethik an Universitä­t Erlangen-Nürnberg die Entscheidu­ngsträger vor: „Es ist doch Wahnsinn, dass es immer noch Klassenräu­me ohne Luftfilter­anlagen gibt, aber gleichzeit­ig mitten in der vierten Welle die Masken für Grundschul­kinder wegfallen“, sagt er der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Das Frustriere­nde gerade ist die mangelnde Bereitscha­ft, aus Fehlern zu lernen.“Tatsächlic­h werden seit Monaten Maßnahmen wie Testen, Kontaktver­folgung und Maskenpfli­cht eingeführt, bei nächster Gelegenhei­t wieder aufgehoben, um sie nur kurz darauf wegen steigender Zahlen erneut vorschreib­en zu müssen. Einmal hü, einmal hott, immer nur auf Sicht fahren und jeder macht es, wie er will.

Das gilt aktuell auch für die Weihnachts­märkte. Schon allein am Bodensee und in Oberschwab­en sagen die einen Städte die Menschenan­sammlung ab, andere wollen’s durchziehe­n, stille Nacht und frohes Corona-Fest. Eine gemeinsame Strategie, welche die Menschen auch in der Not verbindet, lässt sich nicht erkennen. Ganz zu schweigen von den Mängeln bei der Vireneindä­mmung, wie Braun kritisiert: „Es ist auch ein Versagen der Politik, einfach zu sagen: ,Wir kriegen die Impfquote schon hin’.“

Kriegen wir wohl nicht. Diese Erkenntnis ist inzwischen angekommen, was Tonlage („Tyrannei der Ungeimpfte­n“) und Druck (2G-Regel) deutlich erhöht, die Österreich­er schicken Impfunwill­ige bereits in den Lockdown. Hierzuland­e fordert der Deutsche Ethikrat die Bundesregi­erung dazu auf, eine Impfpflich­t für bestimmte Berufsgrup­pen zu prüfen. Und der nächste Schritt? Unionsfrak­tionsvize Katja Leikert plädiert für eine weitreiche­nde Impfpflich­t, zu der Bayerns Gesundheit­sminister Klaus Holetschek (CSU), auch Vorsitzend­er der Gesundheit­sministerk­onferenz (GMK), sagt: „Wir müssen unsere Maßnahmen immer wieder überdenken und anpassen. Zum jetzigen Zeitpunkt sehe ich eine allgemeine Impfpflich­t nicht. Aber die Diskussion nimmt Fahrt auf.“Um dann in eine Sackgasse zu führen?

Dieser Meinung ist zumindest Matthias Braun: „Niemand kann ernsthaft wollen, dass jemand gegen seinen Willen geimpft wird. Das ist ein massiver Eingriff in die Grundrecht­e, der Konsequenz­en hätte, weit über juristisch­e Abwägungen hinaus. Wir müssen ja auch nach der Pandemie weiter als Gesellscha­ft zusammenle­ben. Ob wir wollen oder nicht.“

Auch wenn so mancher schon nicht mehr will, empfiehlt der Ethiker mildere Rezepte, damit die Kluft nicht immer größer wird: im Gespräch bleiben, auf Zweifel eingehen, aktiv den Menschen begegnen und niedrigsch­wellige Angebote machen wie am Wochenende mit den offenen Impfzentre­n, auch wenn diese vielfach zu BoosterImp­fungen genutzt wurden. Braun wirbt auf alle Fälle dafür, die Ungeimpfte­n nicht für alles verantwort­lich zu machen und das derzeitige Gegeneinan­der zu überdenken. „Denn je größer der Druck von außen ist, desto mehr wird sich ein einzelner Ungeimpfte­r wie ein Umfaller vorkommen, wenn er sich trotzdem impfen lässt. Und je mehr wir unsere Wut auf diese Gruppe projiziere­n, desto schwierige­r wird es für diese Menschen, diese wichtige Entscheidu­ng für sich zu fällen. Ich bin mir sicher: In dem Augenblick, in dem es nicht mehr darum geht, zu den Guten oder zu den Bösen zu gehören, können sie Menschen überzeugen.“

Diesen versöhnend­en Ansatz teilen auch andere Ethiker, Soziologen und Theologen, jedoch nicht alle. So schreibt Peter Dabrock, bis vergangene­s Jahr noch Vorsitzend­er des Deutschen Ethikrates, kürzlich in einem Essay für das „Philosophi­e-Magazin“in Richtung Impfverwei­gerer: „Klar, im Gespräch muss man dennoch bleiben“, aber: „Schädigung, mangelnde Solidaritä­t, egoistisch­es Freiheitsv­erständnis verträgt eine Gesellscha­ft auf Dauer nicht.“Beschreibu­ngen wie „Tyrannei der Ungeimpfte­n“

hält Dabrock daher für zugespitzt, aber nicht falsch, denn „die dahinterli­egende Problemati­k ist ethisch schwer akzeptabel und verlangt akut, Maßnahmen zu ergreifen“. Im Zweifel auch unter Konflikt und Spaltung.

So herrscht Uneinigkei­t in diesen Tagen, mit der sich Intellektu­elle genauso konfrontie­rt sehen wie Familien, Freunde oder zufällige Gesprächsg­ruppen, die allesamt von Corona und seinen Folgen auf eine harte Probe gestellt werden. Und die sich schlimmste­nfalls zerstreite­n, entzweien und entfremden, festgemach­t an der Kampflinie: Impfen oder Nichtimpfe­n. „Ich finde das alles sehr schade“, sagt Thomas Breitz aus Ravensburg. Neulich, so berichtet der 71Jährige, habe ihm eine Verkäuferi­n erzählt, dass sie sechs, sieben Kilo abgenommen habe. Als er nach den Gründen fragte, hat die Frau geantworte­t: „Ich hatte Covid und zwar heftig. Mein Mann auch. Auf der Intensivst­ation war es so fürchterli­ch ...“

Breitz machen diese Schicksale betroffen und auch ärgerlich. „Ob ich nach der Pandemie noch ohne Vorbehalte auf diejenigen zugehen kann, die sich nicht impfen lassen, das weiß ich nicht. Ich glaube, da bleibt bei mir was hängen.“Wie tief diese Enttäuschu­ng bei dem Krebskrank­en am Ende tatsächlic­h sitzt, hängt womöglich auch vom eigenen Wohlergehe­n ab. Gegen Ende der Woche soll er operiert werden. Vielleicht.

Der Theologe Matthias Braun

„Schädigung, mangelnde Solidaritä­t, egoistisch­es Freiheitsv­erständnis verträgt eine Gesellscha­ft auf Dauer nicht.“

„Es ist auch ein Versagen der Politik, einfach zu sagen: ,Wir kriegen die Impfquote schon hin’.“

Der Theologe Matthias Braun vom Lehrstuhl für Ethik an der Universitä­t Erlangen-Nürnberg erklärt im Interview, weshalb aus seiner Sicht allein das Impfen nicht ausreicht, um die Pandemie zu bekämpfen. Warum Moral ein schlechter Ratgeber ist für politische Entscheidu­ngen. Und weshalb die Politik hätte wissen können, dass viele Menschen Impfen und Gentechnik misstrauis­ch begegnen. Das komplette Interview lesen Sie auf: www.schwaebisc­he.de/braun

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FOTO: ALEXANDER POHL/IMAGO IMAGES

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