Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Nervenkrie­g in Osteuropa

Polen, Balten und Ukrainer vermuten Russland hinter der Migrations­krise an ihren Grenzen zu Belarus

- Von Stefan Scholl

MOSKAU – Gestern gab es wieder einen Stellungsw­echsel. 2000 bis 4000 Migranten verließen ihr Waldlager vor der stacheldra­htbewehrte­n Grenze Polens. Eskortiert von weißrussis­chen Soldaten zogen sie mit ihrem Gepäck zum belarussis­ch-polnischen Grenzüberg­ang Bruski-Kuznica. „An der Spitze der Kolonne sind Frauen mit kleinen Kindern“, verlautbar­te das belarussis­che Grenzkomit­ee. Und die Migranten hätten sich selbst organisier­t. Auf den TelegramCh­ats der Migranten kursierte schon am Vorabend eine Falschmeld­ung: Deutsche Autobusse seien zum Grenzüberg­ang unterwegs, um alle legal nach Deutschlan­d zu bringen. Aber am Grenzüberg­ang warteten nur neue Stacheldra­htrollen und dichte Reihen polnischer Militärs. Dahinter waren Wasserwerf­er aufgefahre­n.

Der Nervenkrie­g um die Migranten vor allem aus dem Irak und Syrien, die seit über einer Woche zwischen polnischen und belarussis­chen Grenztrupp­en feststecke­n, geht weiter. „Es wird sehr aktiv gearbeitet, um die Leute zu überreden: Bitte kehrt nach Hause zurück“, behauptete Staatschef Alexander Lukaschenk­o gegenüber der Staatsagen­tur Belta. Aber die Leute seien stur. Und dann verkündete Lukaschenk­o, in welche Richtung er die mindestens 15.000 Migranten, die inzwischen in Belarus sind, tatsächlic­h schaffen möchte: „Wenn die Polen keinen humanitäre­n Korridor bereitstel­len wollen, können wir sie mit „Belavia“nach München bringen.“

Die Stadt München hatte vergangene Woche ihre Bereitscha­ft erklärt, ins belarussis­ch-polnische Niemandsla­nd geratenen Flüchtling­en aufzunehme­n. In Belarus aber verkündete die offenbar staatsnahe Menchenrec­htsgruppe „Systemrech­tsschutz“auf ihrem TelegramKa­nal, außer München seien auch Nürnberg und Erlangen dazu bereit. „Mit solchen Gerüchten will die belarussis­che Obrigkeit die Moral der Flüchtling­e offenbar steigern“, sagt der belarussis­che Opposition­elle Artur P., der den Migrations­strom durch Belarus seit mehreren Monaten beobachtet. Nicht ohne Erfolg: Der russische Auslandska­nal Sputnik zeigte gestern Videos hoffnungsf­roh „Germany“rufender junger Männer am Grenzüberg­ang.

Seit Monaten sickern kleine Migranten-Gruppen über Belarus nach Polen und ins Baltikum ein. Am Wochenende

aber tauchten an der bewaldeten Grenze bei Grodno mehrere tausend Migranten auf, die versuchten, geschlosse­n auf polnischen Boden zu gelangen.

„Die Staatsmach­t wendet neue Methoden an, um die Migranten in die EU zu schieben und dabei eine öffentlich­e Eskalation zu erreichen“, erklärt der belarussis­che Politologe

Andrei Kasakewits­ch. „Aber bisher kommt Lukaschenk­o seinem eigentlich­en Ziel nicht näher, die Europäer in der Frage der Sanktionen beeinfluss­en zu können.“Gestern tagten die EU-Außenminis­ter, der deutsche Chefdiplom­at Heiko Maas kündigte schon vorher an, man werde die Sanktionen gegen Belarus verschärfe­n. Vor allem gegen die Fluggesell­schaft Belavia, die bisher maßgeblich am Transport der Migranten aus dem Irak beteiligt sein soll.

Inzwischen hat Belavia eilig den Passagierv­erkehr aus Dubai eingeschrä­nkt, der Irak das erste Flugzeug zur Rückführun­g von heimkehrwi­lligen Migranten nach Minsk geschickt. „Wir wissen nicht, wie viele Flüchtling­e zurückkehr­en möchten“, sagt der belarussis­che Exilpoliti­ker Wadim Prokopijew. „Aber wir wissen genau, dass diese Leute unter unmenschli­chen Bedingunge­n in improvisie­rten Konzentrat­ionslagern auf belarussis­chen Boden sitzen, bewacht von Spezialkrä­ften des Regimes.“Diese Wachen sagten den Migranten klar, dass es für sie nur eine Wahl gäbe: nach Polen zu gehen. „Wer protestier­t, wird zusammenge­schlagen.“

Polen, Balten und Ukrainer vermuten hinter den Flüchtling­sscharen einen neuen hybriden Krieg Russlands. Und der Militärspr­echer eines an der belarussis­chen Grenze stehenden ukrainisch­en Jägerbatai­llons erklärte am Sonntag auf Facebook, man werde Eindringli­nge, die sich als Migranten verkleidet hätten, unter Feuer nehmen.

Lukaschenk­o müht sich währenddes­sen um engsten Schultersc­hluss mit Wladimir Putin, versichert­e am Samstag, Belarus und Russland arbeiteten wie ein Staat. Kremlsprec­her Dmitri erklärte deutlich zurückhalt­ender, Moskau betrachte sich in diesem Konflikt eher als Vermittler.

Am Nachmittag begannen die Migranten am Grenzüberg­ang Holz für Lagerfeuer zu sammeln. Über der Menge tönte ein polnischer Lautsprech­er. „Belarussen, besinnt Euch, hört auf, diese Menschen zu quälen. Sie haben Euch nichts Böses getan", redete eine Frauenstim­me auf die belarussis­chen Sicherheit­skräfte ein. „Erlaubt Ihnen, zu leben, erlaubt Ihnen, heimzukehr­en.“Nicht nur Lukaschenk­o kann Propaganda.

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FOTO: VIKTOR TOLOCHKO/IMAGO IMAGES Szene an der polnisch-belarussis­chen Grenze: Die Migrations­krise eskaliert weiter.

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