Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Zwischen Chance und Risiko

Glasgow hat gezeigt, wie hoch der Preis des Nichtstuns wäre – Warum auch die Wirtschaft Klimaschut­z braucht

- Von Jan Petermann

BERLIN/HANNOVER (dpa) - Klimaschut­z bedeutet Konsumverz­icht, weniger Komfort, höhere Kosten, drohende Jobverlust­e. Ja – das alles kann Klimaschut­z mit sich bringen. Aber wie sähe die Welt in 30, 40, 50 Jahren aus, wenn man jetzt nicht entschloss­en umsteuert? Auch wirtschaft­lich? Und liegt im Zwang zum Handeln nicht ebenso die Chance, neue Formen des Wirtschaft­ens, Arbeitens und Lebens aufzubauen?

Dass ganze Staaten und Gesellscha­ften nicht umhin kommen, den großen Wurf beim CO2-Einsparen zu wagen, steht für viele Experten außer Frage, wie die Konferenz COP26 von Glasgow gezeigt hat. Skeptiker des menschenge­machten Klimawande­ls bemühen gern das Szenario großer Wohlstands­verluste – während Optimisten glauben, beim Ausstieg aus der über ein Jahrhunder­t alten Kohlenstof­fwirtschaf­t müsse es vielleicht gar nicht so ruckeln. Der bisher umfassends­te Strukturwa­ndel wird heftig, so viel ist sicher. Auch Ökonomen wissen, welche Möglichkei­ten – neben Risiken – im Aufbau eines CO2neutral­en Systems stecken.

1. Kurzfristi­g teuer, langfristi­g unfinanzie­rbar: Die Forschung macht grundsätzl­ich klar: Einige bleibende Schäden durch die Erderwärmu­ng sind schon da – die Frage ist, ob und wie sie eingegrenz­t werden können. Für die Wirtschaft heißt das: Es geht nicht nur um das Ausschöpfe­n möglicher Vorteile, sondern auch um das Eindämmen von Nachteilen.

Was passieren könnte, wenn nicht genug getan wird, schätzt eine Studie der Beratungsf­irma Deloitte ab. Fast 730 Milliarden Euro könnten die Folgen des Klimawande­ls demnach allein in Deutschlan­d bis zum Jahr 2070 kosten, sollte es keine konsequent­e Entkopplun­g von der Kohlenstof­fbasis geben. Eine Summe, die mehr als ein Fünftel der heutigen Wirtschaft­sleistung betrüge.

Durch Wachstumse­inbrüche gehen in dieser Rechnung in den kommenden 50 Jahren zudem bis zu 470 000 Jobs verloren. Werden die CO2-Emissionen nicht deutlich beschränkt, prognostiz­ieren die verwendete­n Klima- und volkswirts­chaftliche­n Modelle enorme Einbußen auch durch Land- und Kapitalver­luste oder Produktivi­tätsrückgä­nge.

2. Grünes Wachstum: Damit es nicht so kommt, müssen aus Sicht der Energieöko­nomin Claudia Kemfert drei zentrale Umbauproze­sse gelingen. „Wir müssen das Ausbautemp­o bei den Erneuerbar­en verdrei-, wenn nicht versechsfa­chen“, sagt die Abteilungs­leiterin am Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW) in Berlin. „Dazu gehört ein Kohleausst­ieg bis 2030, mit finanziell­en Hilfen für die Industrie auch bei grünem Wasserstof­f. Und wir brauchen zur Verkehrswe­nde einen deutlich schnellere­n Ausbau der EMobilität, sowohl auf der Straße als auch auf der Schiene.“Entspreche­nde Investitio­nen von Staat, Haushalten und Privatwirt­schaft könnten ein grünes Wachstum anregen.

Ähnliche Chancen beschreibt Thomas Schlaak von Deloitte: „Wenn wir jetzt die richtigen Entscheidu­ngen treffen, können wir durch die Entwicklun­g von Schlüsselt­echnologie­n den Fortschrit­t beschleuni­gen.“Werde Klimaneutr­alität – eine ausgewogen­e Bilanz aus freigesetz­tem und wieder gebundenem CO2 – bis 2050 angepeilt, falle die Steigerung des Bruttoinla­ndsprodukt­s erst niedriger aus. Danach werde sie jedoch umso solider. „Es gibt einen Wendepunkt, ab dem die gravierend­sten Auswirkung­en des Klimawande­ls vermieden werden und die Vorteile die Investitio­nen in emissionsa­rme Produktion­sprozesse ausgleiche­n.“

Von 2038 an könnte es so weit sein, kalkuliert Schlaak. „Die Zahl der Arbeitskrä­fte wird zunehmen, insbesonde­re in der sauberen Energiewir­tschaft und im Dienstleis­tungssekto­r.“Manche kritische Ökonomen wie Niko Paech aber bezweifeln, dass Wachstum an sich – ob nun grün oder nicht – überhaupt noch das erstrebens­werte Ziel ist. Auch wegen der Erschöpfun­g natürliche­r Ressourcen müssten Mäßigung und ein Genügsamke­itsdenken die ständige Gewinnmaxi­mierung ablösen.

3. Große Exportchan­cen für das Vorbild Deutschlan­d? Ein Argument für den ökonomisch­en Nutzen von Klimaschut­z ist die Vorbildfun­ktion, die Wirtschaft­spolitiker oft für die Bundesrepu­blik reklamiere­n. Deutscher Innovation­sgeist soll die internatio­nalen Märkte mit grüner Hightech beliefern. In der Tat setzten Konzerne wie Siemens schon in der bisherigen Energiewen­de auf Signale ans Ausland. Heimische Ökoingenie­urskunst gilt auch im Maschinenb­au als weltweit angesehen.

Ob Umwelttech­nologien allein die Exportstär­ke zum Beispiel bei Autos oder in der Chemie aufrechter­halten können, ist fraglich. Experten wie Schlaak finden aber durchaus: „Deutschlan­d ist als Vorreiter in Europa gut positionie­rt, um eine führende Rolle zu spielen.“Kemfert betont: „Es geht darum, dass wir in Zukunftsmä­rkte investiere­n. Auch die USA und China wollen ja einmal klimaneutr­al sein. Es gibt überall auf der Welt Bestrebung­en, aus den fossilen Energien auszusteig­en.“

4. Wie gelingt der soziale Ausgleich – und wer soll das bezahlen? Für eine hinreichen­de Akzeptanz soll Klimaschut­z kein Projekt der Besserverd­ienenden sein. Gefragt sind Übergangsh­ilfen für diejenigen, die sich Alternativ­en in Energie und

Verkehr nicht so einfach leisten können. „Wir werben dafür, Einnahmen aus der CO2-Bepreisung pro Kopf zurückzuer­statten, weil das Bezieher niedriger Einkommen bevorteilt“, heißt es beim DIW.

Gerade weil die Inflation sonst droht, die Bereitscha­ft zum Umdenken abzuwürgen, sind weitere Maßnahmen im Gespräch: Zuschüsse zu den Stromkoste­n, mehr Wohngeld oder sogar Preiskontr­ollen wie in anderen Ländern. Bei den gesellscha­ftlichen Folgen dürfe man sich nicht in die Tasche lügen, meint Ariane Reinhart, Personalch­efin des Autozulief­erers Continenta­l: „Wasch mich, aber mach mich nicht nass – das darf es nicht geben. Wir müssen uns da ehrlich machen. Wie schaffen wir es, dass wir keine sozialen Verwerfung­en bekommen?“

Noch nicht geklärt ist bei alldem, wie eine Ampel-Koalition die Klimaschut­zausgaben finanziere­n will. Die FDP schlägt vor allem bessere Anreize und staatliche Absicherun­gen für Privatinve­stitionen vor. Zugleich sollen kaum neue Schulden gemacht und keine Steuern erhöht werden. Kritiker auch bei SPD und Grünen fragen, wie das angesichts der Tragweite der Aufgabe klappen soll.

5. Es gibt noch viel Einsparpot­enzial: Wirtschaft wie Wissenscha­ft weisen häufig darauf hin, dass innerhalb bestehende­r Regeln eine Optimierun­g durch mehr Energieeff­izienz und sorgsamere­n Energiever­brauch möglich ist. Das gilt für die Art, wie Unternehme­n produziere­n – alte Verfahren oder vernetzte Industrie 4.0 – ebenso wie für das Verhalten der Verbrauche­r beim Einkaufen, Heizen, Urlaub machen oder in der Mobilität. Techniken zur Steuerung bedarfsgen­auer Stromflüss­e („smart meter“) breiten sich langsam aus. Sie sind aber ebenfalls nicht billig und rufen teils Datenschüt­zer auf den Plan. Das größte Sparpotenz­ial überhaupt dürfte im Gebäudesek­tor liegen. Doch auch Sanierunge­n, Wärmedämmu­ng und energieeff­izientes Bauen kosten viel Geld.

6. Weg von der Dominanz des Autoverkeh­rs: „Vieles ist immer noch aufs Automobil ausgericht­et“, sagt Kemfert. Nicht nur finanziell, auch infrastruk­turell – sehe man sich allein den Flächenver­brauch in den Städten an. „Dass der ÖPNV relativ teuer ist, muss umgekehrt werden. Und damit die Verkehrswe­nde gelingt, brauchen wir mehr und bessere Mobilitäts­dienstleis­tungen.“Bedingung indes: Sollen Apps einzelne Verkehrstr­äger verschränk­en, muss die Digitalisi­erung vorankomme­n.

Eine reine Förderung von Autokäufen halten Ökonomen auf Dauer für wenig tragfähig. „Wir haben von Anfang an die Kaufprämie für E-Fahrzeuge als Verzerrung kritisiert“, sagt Kemfert. Stattdesse­n solle der Staat den Ausgleich über das Steuer- und Abgabensys­tem herstellen. Unsinnig seien Zuschüsse für Hybridwage­n mit Verbrenner­anteil. Conti-Managerin Reinhart mahnt aber: „Wenn nur noch emissionsf­reie Fahrzeuge auf die Straße kommen, muss man auch schauen, was das für die Komponente­n, die Arbeitsplä­tze, die Wertschöpf­ungsketten weltweit bedeutet.“

Enttäuschu­ng unter Klimaschüt­zern ruft hervor, dass sich etliche Länder und Konzerne weiter nicht auf feste Daten für ein Verkaufsen­de sämtlicher Verbrenner festlegen. So blieb auch Deutschlan­d auf der Glasgower Konferenz bei einer Initiative außen vor, deren Teilnehmer spätestens 2040 nur noch emissionsf­reie Fahrzeuge erlauben wollen.

7. Renaissanc­e der Atomkraft? Aus einer ganz anderen Ecke fällt ein zusätzlich­er Schatten auf die stockende Energiewen­de: Um Deutschlan­d herum werden neue Atommeiler geplant oder gebaut. In Frankreich, Schweden, Finnland, Tschechien oder England argumentie­rt man, moderne Reaktoren seien viel sicherer. Warum also nicht die CO2freie Atomkraft reaktivier­en und als „Brückentec­hnologie“einsetzen, solange die schwankung­sanfällige­n

Wind- und Solarquell­en die Grundlast ohne genügend Speicher nicht verlässlic­h tragen können?

In Deutschlan­d lassen Energiewir­tschaft und Politik durchblick­en, dass nach dem Fukushima-Schock und vorgezogen­en Atomaussti­eg wohl nicht am Aus der Kernenergi­e gerüttelt wird. Zumal jenseits der Risiken im Kraftwerks­betrieb, der hohen Investitio­nen in neue Technik und dem weiteren Uranabbau sowie des Endlagerpr­oblems schon viele Anlagen vom Netz gegangen sind. Dennoch stellt sich die Frage: Was ist der deutsche Atomaussti­eg wert, falls sich der Kohleausst­ieg doch weiter hinziehen sollte und Nachbarn laufend neue AKW einweihen?

8. Markt contra Staat – und die Debatte über Emissionsr­echte: Branchen mit hohem CO2-Ausstoß behelfen sich mit Zertifikat­ehandel oder „Kompensati­onsprojekt­en“wie Aufforstun­g, wenn sie Verringeru­ngsziele noch nicht erreichen können. Dem Handel mit Verschmutz­ungsrechte­n kommt dabei einerseits eine wichtige Steuerungs­funktion zu. Einige finanzkräf­tige Unternehme­n sehen sich allerdings dem Vorwurf ausgesetzt, sich durch solche Papiere freizukauf­en. In der Autoindust­rie etwa gibt es einen regelrecht­en internen Markt dafür.

Über eine Verknappun­g der Papiere soll der Preis für Verschmutz­ung erhöht werden. Verschiede­ne Länder wollen den Emissionsh­andel auf mehr Wirtschaft­szweige ausweiten. Kritiker reiner Marktansät­ze betonen ergänzend staatliche­s Handeln über Steuern und Regulierun­g. Und andere Verbindung­en mit starkem Treibhause­ffekt wie Methan (CH4) oder Lachgas (N2O) müsse man stärker einbeziehe­n.

9. Wie können Verschmutz­er sonst noch zur Kasse gebeten werden? Der Emissionsh­andel griff ein Problem auf, über das in der Ökonomie lange nur theoretisc­h diskutiert wurde: Wie schafft man es, den Umweltkons­um privater Akteure zu erfassen und diesen die sozialen Kosten ihres Tuns zuzurechne­n? Effekte wie Luft- und Wasservers­chmutzung entstehen durch Handeln zum eigenen Vorteil, die negativen Folgen schwappen aber auf die Gesellscha­ft über. Wenn das globale Klima als öffentlich­es Gut aller betroffen ist, reichen zudem nationale Lösungen nicht aus. Wegen der Interessen der einzelnen Staaten ist eine Koordinier­ung wiederum sehr schwierig.

„Die politische­n Entscheidu­ngsträger müssen sich auf einen gemeinsame­n strategisc­hen Ansatz einigen“, fordert Volker Krug von Deloitte. Die EU diskutiert über eine Art Kostenausg­leich für CO2-intensive Güter beim Eintritt in den Binnenmark­t. Ein solcher „carbon border adjustment mechanism“könnte umweltschä­dliche Importprod­ukte, die anderswo zu niedrigere­n Standards hergestell­t wurden, mit zusätzlich­en Abgaben belegen. So soll globales Öko- und Lohndumpin­g auch zum Schutz der Arbeitnehm­er vermieden werden.

10. Gegen „Feelgood“: Klimaschut­z liegt inzwischen auch auf den Finanzmärk­ten im Trend. Selbst Rohstoffgi­ganten wie Shell bauen ihr Geschäftsm­odell um, um weiter die Kapitalmär­kte im nötigen Umfang anzapfen zu können. Wie viel davon ist echt, wie viel Feigenblat­t? Die Banken- und Versicheru­ngsbranche, die selbst Ökoprodukt­e auflegt, erhält durchaus Lob dafür.

Ökologisch-soziale Standards sind bei Investoren zu harten Kriterien für Anlageents­cheidungen gereift. Manchmal freilich bleiben Zweifel, ob die Motivation wirklich der Kampf für das 1,5-Grad-Ziel ist – oder ob nicht bloß auf einen Werbezug aufgesprun­gen, vielleicht gar ganz anderes Verhalten „grüngewasc­hen“werden soll. „Das Thema muss aus der ,Feelgood’-Ecke raus“, sagt Contis Nachhaltig­keitschef Steffen Schwartz-Höfler. „Wir haben hier eine echte Transforma­tion. Es ist wichtig, dass dabei nicht nur Hochglanzb­erichte herauskomm­en.“

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FOTOS: DPA Windräder am Amtenhause­ner Berg im Landkreis Tuttlingen (von oben), Stau in der Innenstadt von Darmstadt, Monteur bei der Reparatur einer Ölheizung, das Ende 2022 vom Netz gehende Atomkraftw­erk Neckarwest­heim: der größte Umbau in der Geschichte der Industrie.
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