Eine Tote erzählt aus ihrem Leben
Mitreißende Erstaufführung von Simon Stephens „Am Ende Licht“am Staatstheater Stuttgart
STUTTGART - Simon Stephens war Mitglied der schottischen Art Punk Band Country Teasers. Zum Schreiben fand er, weil ihm das mit der Band dann doch zu wild wurde. Heute zählt er zu den bedeutendsten Theaterautoren Englands, seine Stücke werden rund um die Welt und auch im deutschsprachigen Raum vor allem deshalb geschätzt, weil er sozialpolitisch relevante Themen aufgreift.
In Stuttgart wurden schon einige seiner Theatertexte inszeniert. Am Wochenende gab es nun die deutschsprachige Erstaufführung eines Familiendramas, mit dem Stephens auch soziale Verwerfungen im Vereinigten Königreich thematisiert. Im Mittelpunkt steht Christine, dreifache Mutter und Gattin eines Mannes, der gerade mit zwei Frauen einen flotten Dreier in einem Kingsizebett erleben möchte.
Flott ist dann allerdings doch was anderes. Bernard, so der Name des Gatten, begreift einfach nicht, dass er nicht mehr so jung ist wie seine Kinder. Jess zum Beispiel, die Älteste, die gerade wieder einen Mann kennengelernt hat und das beinahe vermasselt, weil sie ihn so intensiv ausfragt. Gut geht das nur, weil der Neue sich wohl tatsächlich in die Frau verliebt hat, die ihren Gefühlshaushalt bislang mit One-Night-Stands ruinierte. Das mit dem Verlieben hat die Sandwichtochter Ashe bereits hinter sich. Sie kümmert sich „nur“noch hingebungsvoll um ihre kleine Tochter, während sie gleichzeitig den Kindsvater aus ihrem Leben entfernen möchte.
Und der Jüngste, Steven? Er fühlt sich gerade heftig zu einem Mann hingezogen, der auf ganz sympathische Art und Weise nur von sich selbst überzeugt zu sein scheint. Ihnen allen fehlt Luft zum Leben. Jess (Katharina Hauter), weil Männer sie schon zu oft demütigten. Ashe (Nina Siewert), weil sie nur noch Mutter sein will. Steven (Jannik Mühlenweg), weil Liebe bei ihm was mit Raserei zu tun hat. Und Bernard (Klaus Rodewald), weil er während der Gymnastik im Kingsizebett übersieht, dass gerade die Frau stirbt, in die er sich dereinst verliebte: Christine, die in einem Lebensmittelmarkt nach einer Wodkaflasche greift und in sich zusammensackt. Merkwürdig ist nur, dass sie nicht ganz tot und wie ein Geist unterwegs ist.
Hört sich an, als sei Simon Stephens in Richtung einer düsteren Gothic Novel abgebogen. Ist aber nicht so, und das wiederum hat damit zu tun, dass Christine eine glutvoll nüchterne Erzählerin des eigenen Lebens ist. Und eine Figur, mit der Stephens wieder einmal beweist, warum er zu den wichtigsten Gegenwartsautoren zählt. Mit „Am Ende Licht“ist ihm nicht nur eine flirrende Familienaufstellung gelungen, er beschreibt auch die sozialen Abgründe eines schrumpfenden Königreichs, in dem die gesellschaftlichen Spannungen auch nach dem Brexit eher zu- als abnehmen.
Mit der familiären Geisterfahrerin Christine stellt er eine Figur vor, die in Stuttgart zuerst einmal regungslos zwischen stilisierten Regalen auf dem Boden liegt. Schwebt die Discounter-Szenerie wie eine KunstInstallation in die Höhe und steht die Stuttgarter Christine ganz selbstverständlich auf, ist das, als trete die Erzählung eines Lebens aus dem Körper, der dieses Leben gelebt hat. Sylvana Krappatsch berichtet, wie Christines Lebensgeschichte aufgrund einer permanenten Überforderung eine prekäre wurde.
Manchmal hält Krappatsch ungläubig inne, als könne sie nicht glauben, dass diese Frau einfach weiterspricht. Dann stammelt sie oder lässt die Stimme verwaschen klingen, als ereigne sich jetzt gerade die tödliche Gehirnblutung. Das sind große Bühnenmomente gleich zu Beginn einer Inszenierung, die Simon Stephens Text genau folgt, in deren Verlauf Elmar Goerden zusammen mit einem hervorragend aufgelegten Ensemble aber auch dafür sorgt, dass man immer mehr von diesen Menschen erfahren will, die da aneinander vorbeiwandeln oder aufeinanderprallen. Ein spannender Theaterabend.
Weitere Aufführungen: www.staatstheater-stuttgart.de