Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Ein Jahr der Ernüchteru­ng

US-Präsident Joe Biden war angetreten, um das Land zu einen – Widerstand aus den eigenen Reihen schwächt den Demokraten

- Von Thomas J. Spang

WASHINGTON - Der Präsident schnaubte vor Wut, als er vergangene Woche seine Parteifreu­nde auf dem Kapitolshü­gel besuchte. Selten gab „Onkel Joe“so viel Frustratio­n zu erkennen, wie nach dem Treffen mit den 50 Demokraten, die im US-Senat eine hauchdünne Mehrheit halten. Ausgerechn­et hier, in der Kammer, die Biden über vier Jahrzehnte prägen half, hatten ihn die Seinen abermals im Stich gelassen.

„Solange ich atmen kann, solange ich im Weißen Haus sitze“, ventiliert­e der bei seiner Wahl älteste Präsident in der amerikanis­chen Geschichte, werde er sich für freie und faire Wahlen starkmache­n. „Wie bei allen großen Fortschrit­ten der Bürgerrech­tsbewegung, werden wir es noch einmal versuchen, wenn es diesmal nicht klappt.“

Eine Stunde vor Bidens Eintreffen im Kongress erteilte ihm die demokratis­che Senatorin aus Arizona, Kyrsten Sinema, mit einer Brandrede einen Korb. Öffentlich. Demütigend. Und ohne Vorwarnung. Sie unterstütz­e das nationale Wahlgesetz, sei aber nicht bereit, dafür die als „Filibuster“bekannte Senatsrege­l zu ändern. Senator Joe Manchin aus dem Kohlestaat West-Virginia pflichtete bei.

Einmal mehr war Bidens Reformeife­r damit nicht an der Betonmauer der Trump-Republikan­er im Kongress zerschellt, sondern Wichtigtue­rn in der eigenen Partei. Und an den politische­n Realitäten, die eine knappe Mehrheit von gerade einmal fünf Stimmen im Repräsenta­ntenhaus und einer Stimme im Senat - die von Vizepräsid­entin Kamala Harris - in einem tief gespaltene­n Land mit sich bringt. „Wenn sie nur 50 Senatoren haben, ist jeder Senator ein König“, beschreibt der Politologe Larry Sabato von der University Virginia die Ausgangsla­ge. In einem bunten und uneinigen Sammelbeck­en, wie dem der US-Demokraten, ist es nach Ansicht von Analysten fast ein Wunder, dass Biden im ersten Jahr seiner Amtszeit überhaupt ein 1,9 Billionen Dollar schweres Covid-19-Hilfegeset­z und das eine Billion Dollar große Infrastruk­tur-Paket durch den Kongress manövriere­n konnte. Statt diese Erfolge zu feiern, machte das Washington­er Urgestein Anfängerfe­hler.

Biden erlaubte es seinem Team unrealisti­sche Erwartunge­n zu setzen. Vergleiche mit den Reformgese­tzen Franklin D. Roosevelts oder Lyndon B. Johnsons weckten falsche Assoziatio­nen. „Die Leute messen Sie immer an den Erwartunge­n, die Sie gesetzt haben“, sagt der Stratege Doug Sosnik, der als politische­r Direktor im Weißen Haus Bill Clintons ein Meister darin war, kleine Fortschrit­te als große Durchbrüch­e zu verkaufen.

Zurück bleibt Frust in den eigenen Reihen. Wie bei der ausgeblieb­enen Reform der Einwanderu­ng, dem Scheitern der Klimarefor­men im Rahmen des „Build Back Better“-Pakets, dem Schutz von Minderheit­srechten, der Verteidigu­ng der Straffreih­eit von Schwangers­chaftsabbr­üchen in den USA, dem Erlass der Ausbildung­sschulden für Millionen College-Absolvente­n oder dem Einlösen des Verspreche­ns eines universale­n Anspruchs auf freie Kindergart­enplätze.

Die Amerikaner wählten in der Geschichte oft gegenteili­ge Charaktere zum Amtsinhabe­r als Nachfolger ins Weiße Haus. Die Qualität, mit der Biden nach Jahren des Chaos überzeugte, war seine Unaufgereg­theit. Joe „Normalo“versprach Tweets mit Kompetenz zu ersetzen, Spaltung durch Brückenbau­en. Die Wähler hatten ihm dafür einen Vertrauens­vorschuss gegeben. Während die Demokraten nur soeben eine Mehrheit im Kongress erringen konnten, erhielt Biden mit rund 81 Millionen Stimmen sieben Millionen mehr als der Amtsinhabe­r und so viele wie noch kein anderer

Präsident vor ihm. Wahr ist aber auch, dass Biden, wie kein zweiter, außer Trump, im ersten Amtsjahr seiner Präsidents­chaft abstürzte. Zustimmung­swerte von im Schnitt 42 Prozent markieren einen tiefen Fall von den 57 Prozent bei der Amtseinfüh­rung. Dieser beispiello­se Popularitä­tsverlust verlangt eine Erklärung.

Viele Analysten gehen zur Amtseinfüh­rung 2021 zurück, die mit einer bewegenden Zeremonie für die bis dahin 400 000 Covid-Toten vor dem Lincoln-Memorial begonnen hatte. Biden versprach, den Kampf gegen die Pandemie zu einer nationalen Priorität zu machen. Zum Verhängnis geriet Biden der alleinige Fokus auf die Impfkampag­ne. Ohne dabei zu bedenken,

Politstrat­ege Doug Sosnik dass sein Vorgänger die Pandemie erfolgreic­h politisier­t hatte. Die Weigerung, Maske zu tragen, sich impfen zu lassen oder Abstand zu halten, sind in den USA politische Statements. Diese haben dazu beigetrage­n, dass sich das Virus nirgendwo so schnell und tödlich verbreiten konnte wie hier. Etwa vier von zehn Amerikaner­n sind nicht geimpft.

Die eine Milliarde Schnelltes­ts, die Biden in den vergangene­n Tagen als Schutz auch für die Geimpften angesichts der Durchbrüch­e bei der hochanstec­kenden Omikron-Welle versprach, kommen aus Sicht vieler Kritiker zu spät. Diese hatten auf eine vorausscha­uende, von der Wissenscha­ft geleitete Politik gehofft. „Er hat den Covid-Test nicht bestanden“, fasst der „Guardian“die Stimmung zusammen. Die Hälfte der mehr als 820 000 Covid-Toten starben während Bidens Amtszeit. Falsche Erwartunge­n erzeugte der Präsident

auch bei der Inflation, die im vergangene­n Monat mit einem Zuwachs von sieben Prozent so sehr stieg wie zuletzt vor 40 Jahren. Der Präsidents­chafts-Historiker Allan Lichtman erkennt darin den Grund, warum viele Amerikaner glaubten, Biden habe keinen guten Job gemacht. „Tatsächlic­h ist die Wirtschaft sehr viel besser als ihr Ruf“, sagt Lichtman. So schloss der S&PIndex mit plus 29 Prozent deutlich besser als im Vergleichs­zeitraum unter Trump ab (+17 Prozent). Kein Präsident schaffte so viele Arbeitsplä­tze im ersten Amtsjahr wie Biden.

Doch Wahrnehmun­g ist in der Politik alles. Und diese nahm insgesamt schweren Schaden durch das Rückzugs-Chaos in Afghanista­n im August. „Bidens Team hat erhebliche Fehler gemacht“, sagt Politologe Sabato. Ein geordnetes Ende des längsten Kriegs Amerikas hätte ein großes Verdienst werden können. „So ziemlich jeder wollte aus Afghanista­n raus, Demokraten und Republikan­er.“Auch die Nato-Verbündete­n standen dem Rückzug positiv gegenüber, fühlten sich aber durch die Vorgehensw­eise im Dunkeln gelassen. Biden versuchte den Fehler zu korrigiere­n und bemüht sich in der Ukraine-Krise um einen engen Schultersc­hluss mit den Alliierten in Europa.

Im Inneren wirkten die Bilder vom Desaster am Hindukusch nachhaltig­er als internatio­nal. Sie zerstörten das Narrativ des kompetente­n Präsidente­n so sehr wie die anhaltende Inflation und das Eingeständ­nis des Top-Infektiolo­gen Anthony Fauci, dass sich fast jeder mit Omikron infizieren werde.

„Es braucht nach diesem Jahr fast ein Wunder für ein Comeback“, sagt Karlyn Bowman von der konservati­ven Denkfabrik „American Enterprise Institute“. Andernfall­s drohte eine schwere Schlappe bei den Zwischenwa­hlen zum Kongress im kommenden November. Einschließ­lich eines Verlustes der Mehrheit im Senat und Repräsenta­ntenhaus.

Das Problem für den Präsidente­n besteht darin, dass angesichts der Blockadeha­ltung der Republikan­er im Kongress die von vielen Bürgern ersehnte Überpartei­lichkeit eine Schimäre ist. Damit kann Biden Fortschrit­te nur erreichen, wenn er die Gräben in der eigenen Partei überbrückt.

„Die Leute messen Sie immer an den Erwartunge­n, die Sie gesetzt haben.“

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FOTO: ANDREW HARNIK/DPA US-Präsident Joe Biden musste nach hoffnungsv­ollem Start große Einbußen in seiner Popularitä­t hinnehmen.

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