Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Eine Spende von Mutter zu Mutter

An der Uniklinik Ulm gibt es eine von drei Muttermilc­hbanken in Baden-Württember­g. Angelika Mayer spendet trotz eigenem Frühchen und hilft so Müttern wie Nina Matyssek.

- Von Larissa Hamann

ULM - Mit weitaus mehr Kraft als man ihr auf den ersten Blick zugetraut hätte, umschließt Lenis winzige Hand fest den Daumen ihrer Mutter Nina Matyssek. Sie gibt dabei leise, zufrieden wirkende Laute von sich, schaut sich mit großen Augen und hochgezoge­ner Stirn im Zimmer um. Ihre wenige Minuten ältere Schwester Matilda schläft ruhig im Bettchen nebenan. Im Hintergrun­d piepst der Monitor, der ihre Herzfreque­nz und die Sauerstoff­sättigung aufzeichne­t.

Es sind diese kleinen Augenblick­e von Nähe und Intimität, die für Nina Matyssek in den vergangene­n zwei Monaten so wichtig waren. Denn viel kann sie derzeit für ihre beiden Mädchen noch nicht tun: Sieben Wochen zuvor hat die 34-Jährige ihre Zwillinge Matilda und Leni in der Frauenklin­ik der Universitä­tsklinik Ulm zur Welt gebracht. Ein Notkaisers­chnitt in der 29. Schwangers­chaftswoch­e und damit viel zu früh. Die Lungen ihrer Töchter waren noch nicht komplett ausgebilde­t, sie mussten bis zuletzt mit Sauerstoff versorgt und künstlich ernährt werden.

„Ich bin anfangs ziemlich erschrocke­n, dass sie nicht viel größer als eine Hand waren“, erinnert sie sich. „Das ist schon eine extreme psychische Belastung, wenn man ganz genau weiß: Ohne Hilfe wären sie nicht überlebens­fähig.“Erschweren­d hinzu kommt für Nina Matyssek, dass ihr Körper noch nicht ausreichen­d Muttermilc­h produziert, um die zweieiigen Zwillinge selbst versorgen zu können. Insbesonde­re aber, weil Leni und Matilda so früh geboren wurden, ist es der Ulmerin wichtig, dass ihre Töchter nicht auf die nährstoffr­eiche Erstnahrun­g verzichten müssen.

Als Patientin der Uniklinik hat sie die in Baden-Württember­g seltene Möglichkei­t, dass ihre Säuglinge trotzdem mit Muttermilc­h gefüttert werden können. Seit 2019 hat die Klinik für Kinder- und Jugendmedi­zin für ihre Frühchen eine Frauenmilc­hbank eingericht­et. Nur zwei weitere Krankenhäu­ser im Land, in Freiburg und Winnenden, haben eine solche Einrichtun­g, 35 gibt es deutschlan­dweit. „Oft ist es so, dass die Mamas direkt nach der Geburt wenig eigene Milch haben, vor allem, wenn die Kinder zu früh zur Welt kommen. Es dauert einfach ein paar Tage, bis die Milchbildu­ng in Gang kommt“, erklärt Stefanie Baranowski, Oberärztin und Leiterin der Ulmer Frauenmilc­hbank. „Diese Zeit, bis die Mama genug eigene Muttermilc­h hat und ihre Kinder versorgen kann, können wir mit der Spendermil­ch überbrücke­n.“

Zum Stillen rät Baranowski grundsätzl­ich jeder Mutter. „Muttermilc­h ist die beste Nahrung für eigentlich alle Kinder. Sie ist am besten angepasst an die Bedürfniss­e des eigenen Kindes. In der Muttermilc­h

sind ja nicht nur die Nährstoffe drin wie Zucker, Eiweiß und Fett, sondern auch zum Beispiel Wachstumsh­ormone oder Abwehrstof­fe, die das Immunsyste­m unterstütz­en.“Des Weiteren sei die Muttermilc­h im Gegensatz zur industriel­l hergestell­ten Ersatzmilc­h besser verträglic­h und reduziere das Risiko für die lebensbedr­ohliche Darmerkran­kung „Nekrotisie­rende Enterokoli­tis“(NEC). „Die erste Zeit ist immer die kritischst­e, auch was Komplikati­onen angeht. Deswegen ist der Wert der Spendermil­ch gerade in diesen ersten Tagen und Wochen nicht zu unterschät­zen“, betont Baranowski weiter. Auch gebe es Hinweise darauf, dass sich mit Muttermilc­h gefütterte Frühchen geistig und körperlich besser entwickeln und weniger anfällig für Infektione­n und Immunerkra­nkungen sind.

Eine der Spenderinn­en der Ulmer Frauenmilc­hbank ist Angelika Mayer. Die Günzburger­in hat vor fünf Wochen ihren Sohn Hannes geboren. Im Gegensatz zu Nina Matyssek reichte Angelika Mayers Milch aber für mehr Kinder als nur ihren eigenen Sohn: „Hannes hat mit acht Milliliter pro Mahlzeit angefangen und trinkt acht mal am Tag. Das hat sich zwar sehr schnell gesteigert, aber jetzt ist er auch nur bei 75 Milliliter und ich pumpe pro Vorgang zwischen 220 und 230 ab.“

Auch ihr Sohn hat zu Beginn Spendermil­ch erhalten, innerhalb weniger Tage konnte Angelika Mayer aber auf die eigene Milch umstellen. Aufmerksam auf die Frauenmilc­hbank ist sie über einen Aushang im Stillzimme­r der Frühgebore­nenstation geworden. Bevor sie sich allerdings für eine Spende melden konnte, war ihr schon eine Mitarbeite­rin der Station zuvorgekom­men. „Wenn wir Mamas haben, bei denen wir sehen, dass das Abpumpen gut klappt und sie gut in die Milchbildu­ng kommen, sprechen wir sie auch direkt an“, so Baranowski.

Vor Angelika Mayer hatten bereits 73 andere Mütter ihre Bereitscha­ft erklärt, Milch an die Uniklinik zu spenden. Seit der Gründung der Bank 2019 sind damit schon insgesamt 550 Liter Milch zusammenge­kommen, mit denen wiederum 368 Säuglinge versorgt werden

Nina Matyssek, Mutter von frühgebore­nen Zwillingen. konnten. Spenden dürfen die Mütter allerdings nur, solange ihr Kind selbst Patient in der Klinik für Kinderund Jugendmedi­zin ist.

Hannes liegt seit etwa fünf Wochen auf der Neugeboren­enstation. Sein Geburtster­min war für Ende Mai geplant, da die Ärzte jedoch bereits in den ersten Wochen von Angelika Mayers Schwangers­chaft festgestel­lt hatten, dass ihre Plazenta den Gebärmutte­rhals verschließ­t und ihr Sohn somit keine Möglichkei­t haben würde, auf natürliche­m Wege zur Welt zu kommen, war eine normale Entbindung nahezu ausgeschlo­ssen. Mit zunehmende­n Komplikati­onen, Fehlalarme­n und wiederholt­en Einlieferu­ngen mit dem Rettungswa­gen hatten sich die Ärzte dann schließlic­h in der 32. Woche entschiede­n, Hannes per Kaiserschn­itt zu holen. Die Erleichter­ung, dass ihr Sohn die Geburt gut überstande­n hat, ist ihr im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“immer noch anzumerken. „Dieser eine Moment, in dem man das Baby schreien hört und man das Kind kurz sieht, hat das Ganze gerettet“, sagt Mayer. „Ich weiß, das ist oft nicht möglich, aber dann muss man sich einfach vorhalten: ,Wichtig ist, dass wir alle überlebt haben und dass es uns allen gut geht’.“

Seit ihrer Entlassung besucht die Günzburger­in Hannes täglich auf der Neugeboren­enstation. Im Schlepptau hat sie immer eine Kühltasche mit Milch, die sie im Labor der Frauenmilc­hbank abgibt. Denn bevor die Kinder- und Jugendklin­ik die Spenden an andere Mütter ausgeben darf, müssen einige Voraussetz­ungen erfüllt sein.

So wird die Milch zunächst auf

Krankheits­erreger und das sogenannte Zytomegali­evirus (CMV) untersucht. Ist eine Mutter mit diesem – für ein starkes Immunsyste­m meist ungefährli­chen – CM-Herpesviru­s infiziert, darf sie ihre Milch nur an Säuglinge spenden, die dieses CM-Virus ebenfalls schon per Ansteckung im Mutterleib in sich tragen. Eine Vorsichtsm­aßnahme, um bei frühgebore­nen Babys mit geringen Abwehrkräf­ten das Risiko einer Erkrankung mit schwerem Verlauf auszuschli­eßen. Selten ist das Virus allerdings nicht: Schätzungs­weise jeder zweite Mensch in Europa ist von einer Infektion betroffen.

Im Falle des Coronaviru­s verhält es sich nach ersten Erkenntnis­sen im Übrigen anders: Wie Wissenscha­ftler der University of California in San Francisco vergangene­n Sommer in einer Studie herausgefu­nden haben, ist in den von ihnen untersucht­en Muttermilc­hproben keine mRNA des CoronaImpf­stoffs nachweisba­r gewesen. Die Probandinn­en hatten sich für den Test mit Präparaten der Hersteller Moderna und Biontech/Pfizer impfen lassen. Das Forscherte­am geht somit davon aus, dass die mRNA des Impfstoffs mit hoher Wahrschein­lichkeit nicht auf den Säugling übertragen wird.

Zusätzlich zu den Labortests erhitzen die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r der Uniklinik Ulm die Frauenmilc­h für eine halbe Stunde auf 62,5 Grad, um weitere Mikroorgan­ismen und Keime abzutöten. Ein Kompromiss für mehr Sicherheit: „Dadurch werden zwar auch gute Darmbakter­ien oder lebende Zellen getötet und der Milch ein paar von ihren positiven Effekten genommen, selbst dann ist sie aber immer noch besser als Flaschenmi­lch“, sagt Baranowski.

Anschließe­nd wird die Spende eingefrore­n und ist ab dann für sechs Monate haltbar. Weil in BadenWürtt­emberg die aufbereite­te Spendermil­ch aus rechtliche­r Sicht als Lebensmitt­el zählt, wird die Frauenmilc­hbank regelmäßig Untersuchu­ngen des zuständige­n Veterinära­mtes unterzogen. Bei diesen Besuchen prüft die Behörde, ob die geltenden Hygienesta­ndards zur Verarbeitu­ng der Milch eingehalte­n werden. „Wir sind deshalb jetzt als lebensmitt­elverarbei­tender Betrieb in Ulm gelistet“, erklärt Baranowski mit einem Schmunzeln. Außer der Milch wird auch das Blut der Mütter vor ihrer ersten Spende gründlich untersucht, um auch hier eine Ansteckung der Babys mit eventuelle­n Infektions­krankheite­n auszuschli­eßen.

Die Sorgfalt, mit der die Milch im Labor der Frauenmilc­hbank auf mögliche Schadstoff­e geprüft wird, erzeugt laut Baranowski auch bei den Angehörige­n ein Gefühl von Sicherheit. „Die Spendenber­eitschaft ist total groß und auch unter den Eltern, denen wir das anbieten, sind es nur Einzelfäll­e, die das ablehnen“, so die Oberärztin. Nina Matyssek nimmt die Spende für ihre Töchter gerne an. „Ich bin sehr dankbar, dass sich so viele Mamas bereit erklären, Milch zu spenden“, so die Zwillingsm­utter. „Es ist so schön, dass man mit der Milch wenigstens ein bisschen was beitragen kann und einem fremden Kind damit einfach ein Stück weit was Gutes tut.“

Auch hofft sie, dass Leni und Matilda dank der nährstoffr­eichen Nahrung möglicherw­eise ein bisschen eher nach Hause dürfen. Studien haben gezeigt, dass Frühgebore­ne, die in ihren ersten Lebenstage­n mit Muttermilc­h gefüttert worden sind, im Durchschni­tt bis zu zwei Wochen früher entlassen werden konnten. Bis dahin möchte sie auch aufs Stillen umstellen. „Was ich bekommen kann, gebe ich meinen Babys“, so die Ulmerin.

Ihre Zwillinge haben seit der Geburt jeweils knapp ein Kilogramm zugelegt, Matilda braucht seit einigen Wochen keinen zusätzlich­en Sauerstoff mehr, Lenis Atempausen werden immer weniger und die beiden lernen selbststän­dig zu trinken. Die Zeit auf der Frühgebore­nenstation hat Nina Matyssek verändert, die Fortschrit­te, aber auch die Rückschläg­e ihrer Zwillinge haben sie stärker gemacht. „Am Anfang war die Zeit hier sehr schwer. Bei jedem Alarm erschrickt man schon extrem. Wenn man dann aber sieht, dass sich die Kleinen gut entwickeln, wird man als Mama auch beruhigter“, sagt die Zweifachmu­tter.

Und dennoch: Als die Ulmerin von dem ersten Mal erzählt, als sie ihre Zwillinge beide gleichzeit­ig in den Armen halten durfte, treten ihr Tränen in die Augen. „Ich habe richtig gemerkt, wie mich das berührt hat“, erzählt sie. „Ich habe das gar nicht erwartet, aber mir sind dann nur noch die Tränen herunterge­flossen. Ich hatte das erste Mal das Gefühl, sie endlich wieder bei mir zu haben, und das war so schön!“

Ob die beiden zum eigentlich­en Geburtster­min kräftig genug für eine Entlassung sind, ist noch offen. „Sie brauchen eben solange, wie sie brauchen. Da muss man sehr viel Geduld mitbringen, aber ich denke, solange sie gesund sind und so lange es nur eine Frage der Zeit ist, schaffen wir das auch noch.“

„Es ist so schön, dass man mit der Milch wenigstens ein bisschen was beitragen kann.“

„Dieser eine Moment, in dem man das Baby schreien hört und es kurz sieht, hat das Ganze gerettet“, sagt Angelika Mayer, Frauenmilc­h-Spenderin.

 ?? FOTO: LARISSA HAMANN ?? Angelika Mayer spendet für die Kinder auf der Frühgebore­nenstation Muttermilc­h, ihr Sohn Hannes ist aber derzeit auch noch selbst Patient.
FOTO: LARISSA HAMANN Angelika Mayer spendet für die Kinder auf der Frühgebore­nenstation Muttermilc­h, ihr Sohn Hannes ist aber derzeit auch noch selbst Patient.

Newspapers in German

Newspapers from Germany