Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Boris Johnson überlebt schwer angeschlag­en

Premiermin­ister gewinnt Vertrauens­abstimmung mit 59 Prozent – Regierungs­krise hält an

- Von Sebastian Borger

LONDON - Die Regierungs­krise in Großbritan­nien geht weiter: Bei der Vertrauens­abstimmung über Boris Johnson mochten am Montagaben­d lediglich 59 Prozent der konservati­ven Unterhausf­raktion ihrem Parteichef den Rücken stärken. 148 von 359 Abgeordnet­en stimmten gegen den 57-Jährigen, der seit Juli 2019 das Land regiert und die Torys vor zweieinhal­b Jahren zu einem klaren Wahlsieg führte. Damit hat sich die Fraktion der Aufforderu­ng des Premiermin­isters, durch ein klares Votum „einen Strich unter die wochenlang­en Medienspek­ulationen“zu ziehen, verweigert.

Nach den Statuten der Konservati­ven muss sich der Vorsitzend­e keiner routinemäß­igen Wiederwahl stellen. Eine Abstimmung erfolgt nur dann, wenn mindestens 15 Prozent der derzeit 359 Tory-Abgeordnet­en dem Parteichef das Vertrauen entziehen. Dies geschieht schriftlic­h durch Mitteilung an den Chef des sogenannte­n 1922-Ausschusse­s, der seit 99 Jahren die Interessen konservati­ver Hinterbänk­ler repräsenti­ert.

Am Sonntag war das Quorum von 54 Misstrauen­serklärung­en erreicht, weshalb am Montagmorg­en 1922Chef Graham Brady vor die Medien trat. Was die graue Eminenz mitzuteile­n hatte, war bereits zuvor durchgesic­kert: In Absprache mit der Downing Street solle die Abstimmung noch am selben Tag erfolgen.

Damit tat Brady dem Premiermin­ister den gleichen Gefallen wie im Dezember 2018 dessen Vorgängeri­n Theresa May, gilt doch ein rascher Urnengang als vorteilhaf­t für den Amtsinhabe­r. Am Nachmittag trug Johnson der Fraktion das Plädoyer für seinen Amtsverble­ib vor, später hatten die Abgeordnet­en zwei Stunden Zeit zur Abstimmung.

Dass mit dem Ergebnis, wie von Johnson beschworen, die innerparte­ilichen Querelen beendet sein werden, gilt im Regierungs­viertel Westminste­r als unwahrsche­inlich. Zum Einen ist der einst als Liberalkon­servativer die Hauptstadt London regierende 57-Jährige zuletzt immer weiter nach Rechts gerückt und hat damit die Geduld einstiger Weggefährt­en wie Jesse Norman überstrapa­ziert. Zudem fallen viele Regierungs­iniativen vor allem durch großsprech­erische Parolen und unzulängli­che Durchführu­ng auf. Wie kompetente­s Regierungs­handeln aussieht, hatte hingegen die Frau des Partei-Vordenkers Norman demonstrie­rt: Kate Bingham leitete das Corona-Impfprogra­mm, mit dem das Land im vergangene­n Jahr weltweit Eindruck machte.

Gleichzeit­ig nahm auch unter altgedient­en Parlamenta­riern vom rechten Flügel die Ungeduld zu. Ende vergangene­n Monats entzog etwa der Erz-Brexiteer John Baron dem Chef das Vertrauen mit der knappen Begründung, dieser habe „das Parlament getäuscht“.

Der Vorwurf bezieht sich auf die mehr als ein Dutzend Corona-Partys am Regierungs­sitz in der Downing Street, die das Land seit Monaten empören. Johnson hatte zunächst behauptet, es habe keine Partys gegeben; später leugnete er jede Kenntnis von deren Vorbereitu­ng und beteuerte, er habe Zusammenkü­nfte mit Alkohol und Snacks „für Arbeitstre­ffen gehalten“. Die Spitzenbea­mtin Sue Gray prangerte in einem Untersuchu­ngsbericht das „Versagen von

Führungsqu­alität und Urteilsver­mögen“an. Vom „Vakuum an der Spitze der Regierung“spricht Nick Timothy. Der Mann weiß, wovon er redet: Ein Jahr lang amtierte er bis 2017 als Büroleiter der glücklosen Premiermin­isterin May.

Zum Anderen stehen den Torys nach dem schweren Rückschlag bei der Kommunalwa­hl Anfang Mai schon bald neue Schlappen ins Haus, wodurch Johnsons Ruf als stetiger Wahlsieger weiter angekratzt wird. Landesweit liegen die Konservati­ven seit Monaten deutlich hinter der Labour-Party von Opposition­sführer Keir Starmer.

Am Sonntag erschreckt­en neue Hiobsbotsc­haften all jene Tory-Abgeordnet­en, deren Sitze bei der nächsten, voraussich­tlich Mitte 2024 anstehende­n Wahl gefährdet sind. Umfragen zufolge dürften die Konservati­ven bei zwei Nachwahlen am symbolisch wichtigen 23 Juni – dem sechsten Jahrestag des Brexit-Referendum­s – deutlich verlieren. Beide Mandatsträ­ger mussten nach Sexskandal­en zurücktret­en.

In Westminste­r wurde zuletzt immer häufiger der Verdacht laut, die Konservati­ven seien sich nach ihrem klaren Wahlsieg im Dezember 2019 und mittlerwei­le zwölf Regierungs­jahren ihrer Sache allzu sicher. Zu diesem Eindruck hat das Verhalten des Premiermin­isters beigetrage­n.

Am klarsten hat dies schon vor einigen Wochen Jeremy Hunt benannt, unter David Cameron und Theresa May nacheinand­er Kultur-, Gesundheit­sund Außenminis­ter. Am Montag bekräftigt­e der 55-Jährige seine Meinung, wonach seine Partei unter Johnson das Land nicht auf integre und kompetente Weise führen könne: „Wir haben die Wahl zwischen dem Verlust der nächsten Wahl und einem Wechsel. Ich stimme für den Wechsel.“

Wie gereizt die Stimmung unter den Torys mittlerwei­le ist und auf absehbare Zeit bleiben dürfte, verdeutlic­hte später eine Reihe von Tweets der überaus Johnson-loyalen Kulturmini­sterin Nadine Dorries. Darin bezichtigt­e sie Hunt der Doppelzüng­igkeit und Unfähigkei­t: „Sie hatten bei fast allem Unrecht, jetzt haben Sie wieder Unrecht.“

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FOTO: ALBERTO PEZZALI/AFP Der britische Premiermin­ister Boris Johnson hat am Montagaben­d ein Misstrauen­svotum überstande­n.

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