„Goldene Brücke“aus dem Ukraine-Krieg?
US-amerikanische Experten ringen um den richtigen Umgang mit dem Kremlchef
WASHINGTON - Graham Allison verfügt über eine Menge Erfahrung im Umgang mit Russland. Der ehemalige Planungschef des Pentagon hatte nach dem Ende des Kalten Krieges die Strategie der USA gegenüber den Nachfolgestaaten der Sowjetunion koordiniert. Jetzt steht er mit der Aussage im Zentrum einer lebhaften Debatte, dass Wladimir Putin eine Art gesichtswahrenden Ausweg aus dem Ukraine-Krieg braucht.
Diesen Gedanken entfaltete er zuerst in der April-Ausgabe des Experten-Magazins „Foreign Affairs“und vertiefte ihn dann in einem „Spiegel“-Interview. Allison meint, eine demütigende Niederlage Putins in der Ukraine sei destabilisierend für dessen Macht. Vor die Wahl gestellt, diese zu verlieren, und wahrscheinlich auch mit seinem Leben dafür zu bezahlen, oder den Konflikt zu eskalieren, werde sich der Alleinherrscher in Moskau für letzteren Weg entscheiden.
„Putin hat keine Hemmung, Menschen umzubringen, auch in sehr großer Zahl“, sagt er gegenüber dem „Spiegel“. Für diesen Fall „müssen wir mit dem Einsatz einer taktischen Atomwaffe rechnen“. Von da aus ist es gedanklich nur noch ein kleiner Schritt zu dem, was Amerikaner eine „Off-ramp“nennen. In Allisons Worten „ist es wichtig, ihm einen aus seiner Sicht guten Grund zu geben, den Krieg stoppen zu können“.
Die Pultitzer-Preistträgerin und Osteuropa-Expertin Anne Applebaum hält wenig von der Idee, der Kreml-Chef benötige einen Ausweg. „Der Westen sollte nicht versuchen, Putin eine Off-ramp anzubieten. Unser
Ziel, unser Endspiel, sollte eine Niederlage sein.“Russland müsse militärisch, wirtschaftlich und strategisch so weit geschwächt werden, dass „er daraus nur schließen kann, dass der Krieg ein fürchterlicher Fehler war, den er nicht wiederholen darf.“
Schon die Grundannahme von Allison und anderen Advokaten einer „Goldenen Brücke“sei falsch. „Diese unterstellt, dass Putin ein Ende des Krieges sucht.“Tatsächlich gebe es kein Anzeichen dafür. Vielmehr gehe dieser davon aus, „in einem langen Abnutzungskrieg zu gewinnen“. Ferner habe Putin mit seinen Lügen vor Kriegsbeginn und danach bewiesen, dass sich mit ihm kein Ausweg verhandeln lässt. „Keinen künftigen Versprechungen des russischen Staates lässt sich glauben, solange dieser von Putin kontrolliert wird.“
Applebaum erinnert wie andere Analysten daran, dass westliches Appeasement nach der völkerrechtswidrigen Einverleibung der Krim Putin nicht davon abgebracht habe, im Februar dieses Jahres die Ukraine zu überfallen. Der Ökonom Anders Åslund schreibt in einem Beitrag zum „Atlantic Council“, Linke wie Realpolitiker übersähen, dass Putin Russlands „nationales Interesse“bloß als Vorwand missbrauche, zu kaschieren, dass er „ein autokratischer Kleptokrat“sei, der sein Selbstinteresse hinter der Fassade des Revisionismus verstecke.
Åslund findet das Argument merkwürdig, das besagt, Putin dürfe nicht provoziert werden. Dabei habe dieser doch ohne Not „einen unprovozierten und nicht gerechtfertigten Krieg begonnen“. Für Åslund kann die Antwort nicht in der Off-ramp bestehen, sondern nur in Stärke. Dazu gehört langfristig das Angebot einer Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine, die Erweiterung des Bündnisses um Finnland und Schweden und die Lieferung von Waffen an
Kiew, die dem Land helfen, die Aggression abzuwehren.
Charles A. Kupchan, der Barack Obama im Weißen Haus beriet, denkt, die Ukraine habe das moralische Recht, die volle Wiederherstellung ihrer Gebietshoheit zu verlangen. „Das macht es strategisch aber nicht unbedingt weise“, schlägt sich Kupchan auf die Seite der Brückenbauer. Wenn Putin militärisch seine Ziele im Osten und Süden nicht nur verfehle, sondern eine Niederlage drohe, könnte er den Krieg eskalieren. „Der Gebrauch von Massenvernichtungswaffen könnte eine Option für ihn sein.“
Es sei unter diesen Umständen ratsam, das Blutvergießen „eher früher als später zu beenden“. Die Ukraine könnte die Abwehr der Invasion von Kiew und des größten Teils ihres Landes als Erfolg betrachten. Wie der Westen die Sanktionsfront gegen Russland sowie die Wiederbelebung des Westens inklusive der Nato-Erweiterung als strategische Niederlage für Putin verbuchen könne.
Der Politologe Daniel W. Drezner von der renommierten Fletcher School of Law and Diplomacy an der Tufts University enthüllt die Schwäche dieses Arguments, indem er bloßlegt, wie sein Kollege die Person Putin mit Russland gleichsetzt. „Die Idee, dass eine siegreiche Ukraine das Ende von Russland bedeutet, ist weit hergeholt“, meint Drezner. Schließlich stünden russische Soldaten auf dem Territorium der Ukraine. Diese von dort zu vertreiben, stelle keine Bedrohung für Russland dar. Drezners Rat: „Wir sollten damit aufhören, uns um goldene Brücken für Putin zu sorgen.“