Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Prozess zum Mord an De Vries startet

Täter stehen vor Gericht – Diese sollen nicht Drahtziehe­r der Bluttat am Reporter sein

- Von Annette Birschel

AMSTERDAM (dpa) - Schüsse fallen mitten in Amsterdam. Es ist der 6. Juli 2021, etwa 19.30 Uhr. Auf der Lange Leidsedwar­sstraat bricht ein Mann zusammen, zwei Kugeln trafen ihn in den Kopf. Es ist der prominente Crime-Reporter Peter R. de Vries. Neun Tage später erliegt er seinen schweren Verletzung­en. Der Mord trifft die Niederland­e wie eine Schockwell­e und macht vielen auf brutale Weise klar, wie stark der Würgegriff des organisier­ten Verbrechen­s ist.

Nun, knapp ein Jahr nach der Bluttat, wird den beiden mutmaßlich­en Tätern ab Dienstag der Prozess gemacht. Doch es trifft vermutlich nur Handlanger. An die Stelle des Schocks trat eine bittere Einsicht: Die wirklichen Drahtziehe­r kriegt man nicht.

Es gibt kaum einen Zweifel: Der Reporter wurde Opfer einer brutalen Drogenband­e. Und die beiden Angeklagte­n führten wohl nur einen Auftrag aus. Sie waren kaum eine Stunde nach der Tat auf der Autobahn gefasst worden. Der Pole Kamil E. (36) mit Wohnsitz in Maurik im Südosten des Landes soll das Fluchtauto gefahren, der Rotterdame­r Delano G. (22) geschossen haben.

„Wir haben starke Beweise gegen die beiden Verdächtig­en“, sagt die Sprecherin der Staatsanwa­ltschaft, Mara van den Berg. Im Fluchtauto, einem Renault Kadjar, waren zwei Waffen gefunden worden. Eine Maschinenp­istole und eine umgebaute Signalpist­ole, die Tatwaffe. Dazu gibt es DNA-Beweise, Kamerabild­er, Fingerabdr­ücke, Zeugenauss­agen. „Und es gibt sogar einen Augenzeuge­n der Tat.“

Im Auto wurden auch Handys mit verschlüss­elten Botschafte­n gefunden. Die beiden Männer kommunizie­rten der Anklage zufolge auf Polnisch und Niederländ­isch mit einem Unbekannte­n. Er hatte am Tag des Anschlags Fotos von Peter R. de Vries geschickt: „Diesen Hund müsst ihr haben.“„Ich mach das solo“, soll Delano G. geantworte­t haben. „Ich finish das.“Nach dem Mord schickte er Berichte an den Unbekannte­n.

Schon Tage vorher sollen beide Männer am Tatort gesehen worden sein, vermutlich, um die Lage auszukunds­chaften. Es war bekannt, dass der Reporter nach den Aufnahmen der TV-Show im Studio ganz in der Nähe zu Fuß zu seinem Auto in einer Garage ging – ohne Personensc­hutz.

Doch wer war dieser Unbekannte, der in den Prozessakt­en nur mit dem Code NN-*4229 angedeutet wird? Die beiden Angeklagte­n schweigen dazu. Delano G. sagt gar nichts, und Kamil E. beteuert, dass er nichts mit der Sache zu tun habe. „Ich hab keinen totgemacht, und ich hab keine Waffe gesehen“, sagte er bei einer vorbereite­nden Sitzung aus. Er sollte nur jemanden von Rotterdam nach Amsterdam bringen und wieder abholen. Doch die Ermittler sind davon überzeugt, dass der breitschul­trige Pole schon über seine auffällige­n Tätowierun­gen auf den Kamerabild­ern zu identifizi­eren ist.

Vieles deutet darauf hin, dass der Mord auf das Konto der internatio­nal berüchtigt­en Drogenband­e des marokkanis­chen Niederländ­ers Ridouan Taghi (44) geht. Ihm wird zurzeit mit 16 anderen in Amsterdam der Prozess gemacht wegen mehrerer Morde und Mordversuc­he. Die Anklage spricht von einer „geölten

Mordmaschi­ne“. „Jeder, der auspackt, muss schlafen“, ist ein bekannter Spruch von Taghi. Schlafen heißt töten im Jargon. Doch einer hat ausgepackt. Nabil B. wurde Kronzeuge gegen Taghi. Dafür wurde schon 2018 sein Bruder ermordet, ein Jahr später sein Anwalt, und dann Peter R. de Vries, er war Vertrauens­person von Nabil B. Der Reporter war geschätzt als kompromiss­loser Kämpfer gegen das Verbrechen. Aber damit stand er auch im Fadenkreuz. Und doch lehnte er Personensc­hutz ab. „Einer Kugel mit deinem Namen darauf kannst du nicht ausweichen“, hatte er gesagt. Doch warum nicht andere Sicherheit­smaßnahmen getroffen worden waren, ist eine der großen offenen Fragen. Zu lange haben die Niederland­e nicht wahrhaben wollen, dass sie einer der größten Umschlagpl­ätze harter Drogen sind, und damit Einsatzgeb­iet des organisier­ten Verbrechen­s. Bei dem Prozess geht man kein Risiko ein: Alle 88 Zeugen bleiben anonym. Auch die Namen der Staatsanwä­lte dürfen nicht genannt werden. Die Angst vor weiteren Anschlägen ist groß. Denn diese Banden schrecken vor nichts zurück.

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