Faszination Fachwerk
Blaubeuren bietet kuriose, künstlerische und kapitale Formen des Hausbauhandwerks
BLAUBEUREN - Der schwäbische Mann, die schwäbische Frau, das schwäbische Kind und ein wilder Mann prägen Blaubeuren. Gemeint sind keine lebenden Personen, sondern Elemente an Sichtfachwerk mit statischer Wirkung, die jeder schon einmal wahrgenommen haben mag. Außerdem gibt es in der Blautopfstadt am Fachwerk reichlich Zierelemente, denen die Hausherren auch noch einen tieferen Sinn beimaßen. Wo viele Multiplikationszeichen zu sehen sind, da waren die Bauherren auf die Mehrung ihres Geldes erpicht, erklärte Barbara Rüd in einer öffentlichen Stadtführung zum Deutschen Fachwerktag.
Rauten hingegen, wie etwa am Gebäude Marktstraße 19, seien Fruchtbarkeitszeichen, weil sich der Erbauer eine große Nachkommenschaft wünschte. Weiteres Zierelement sind Kreise zur Darstellung der Sonne als Symbol für Leben und Gottgläubigkeit. An der Marktstraße 15 gibt es als Besonderheit einen Vorhangbogen, also ein Fenster, das von einer zierenden Holzkonstruktion umgeben ist. Rar seien in Süddeutschland Haussegenssprüche und daher wenige in Blaubeuren zu finden.
Nicht vollständig eingeschlagen, galten Holznägel als Zierde, zeigte die Führerin im Urgeschichtlichen Museum auf, dem einstigen Spital der Stadt. Hier ist eine Innenwand zu sehen, die einst Außenwand war. Dunkles Deckengebälk führe von Rauch und seiner konservierenden Wirkung her. Lehm mit Stroh versetzt diente zur Füllung der Gefache, ein Kalkanstrich zur Desinfektion. Schwachpunkt am Fachwerk ist das Austrocknen der Holzbalken und der Füllstoffe in den Gefachen. Zugluft drang durch die Ritzen.
Zwischen dem Spital und der Kirche St. Peter und Paul lag einst der Friedhof und die Kapelle an der Karlstraße war Friedhofskapelle. Nach der Verlegung des Gottesackers ließ der Leiter des Spitals seine Büro als Fachwerkbau auf die ausgediente Kapelle aufbauen und auf Höhe des ersten Stocks einen Gang zu dieser separat gelegenen Spitalkanzlei bauen.
Verschiedenfarbiges Fachwerk ist in Blaubeuren zu entdecken: gelb, grau, helleres und dunkleres Braun, rot, rotbraun und schwarz. Der Blick über das steinerne Erdgeschoss hinaus macht einem diese Unterschiede bewusst. Grau ist das Fachwerk am kleinen großen Haus. Gelbes Fachwerk stehe für Reichtum und Einfluss und sticht an der heutigen Polizeistation sofort ins Auge, weil das Gebäude in napoleonischer Zeit nach der Säkularisierung das Oberamt beherbergte. Ein Fratzenkopf an diesem Gebäude soll böse Geister abhalten.
Nicht jedes Fachwerk darf freigelegt werden. Hausbesitzer müssten zuerst klären, ob dieses als Sichtfachwerk erbaut wurde. Zur schonenden Bearbeitung der Holzbalken kam das Beil zum Einsatz. Die Führungsteilnehmer erfuhren spätestens jetzt, dass ein Beil im Gegensatz zur Axt nur an einer Seite scharf ist, was die Holzfasern schont und resistenter gegen Nässe macht. Große Angst bestand nämlich vor dem Hausschwamm, der ein Gebäude in wenigen Monaten zerstören konnte. Unter Idealbedingungen hält ein Fachwerkgebäude
Erschütterungen besser Stand, als dies bei einem Steingebäude der Fall ist. Die Stadtführerin erlebte mehrfach das Abbauen und den Wiederaufbau von Fachwerkbauten. In ihrer Jugend drückte einmal ein Bagger eine Fachwerkscheune nieder, die sich wie von Geisterhand unter Quietschen nach kurzer Zeit wieder selbst aufrichtete. War die Geldvermehrung in Blaubeuren eingetreten, dann wurden manche Häuser aufgestockt, wie zum Beispiel die heutige Stadtbücherei. Gebogene Tragebalken sind Zeugnis der zusätzlichen Last. Dadurch kam es teilweise zu unterschiedlichen Baustilen. „Gotik unten und Renaissance
oben“erkennt die Fachwerkführerin am Gebäude, das „Il Gusto“in der Karlstraße beherbergt. Für Blaubeurer Verhältnisse sei das Matthäus-Alber-Haus, erbaut 1602, sehr jung, verdeutlichte Barbara Rüd, die auch als Seißener Ortsvorsteherin bekannt ist. Diese Stadtführung kann von Gruppen gebucht werden.