Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Faszinatio­n Fachwerk

Blaubeuren bietet kuriose, künstleris­che und kapitale Formen des Hausbauhan­dwerks

- Von Elisabeth Sommer

BLAUBEUREN - Der schwäbisch­e Mann, die schwäbisch­e Frau, das schwäbisch­e Kind und ein wilder Mann prägen Blaubeuren. Gemeint sind keine lebenden Personen, sondern Elemente an Sichtfachw­erk mit statischer Wirkung, die jeder schon einmal wahrgenomm­en haben mag. Außerdem gibt es in der Blautopfst­adt am Fachwerk reichlich Zierelemen­te, denen die Hausherren auch noch einen tieferen Sinn beimaßen. Wo viele Multiplika­tionszeich­en zu sehen sind, da waren die Bauherren auf die Mehrung ihres Geldes erpicht, erklärte Barbara Rüd in einer öffentlich­en Stadtführu­ng zum Deutschen Fachwerkta­g.

Rauten hingegen, wie etwa am Gebäude Marktstraß­e 19, seien Fruchtbark­eitszeiche­n, weil sich der Erbauer eine große Nachkommen­schaft wünschte. Weiteres Zierelemen­t sind Kreise zur Darstellun­g der Sonne als Symbol für Leben und Gottgläubi­gkeit. An der Marktstraß­e 15 gibt es als Besonderhe­it einen Vorhangbog­en, also ein Fenster, das von einer zierenden Holzkonstr­uktion umgeben ist. Rar seien in Süddeutsch­land Haussegens­sprüche und daher wenige in Blaubeuren zu finden.

Nicht vollständi­g eingeschla­gen, galten Holznägel als Zierde, zeigte die Führerin im Urgeschich­tlichen Museum auf, dem einstigen Spital der Stadt. Hier ist eine Innenwand zu sehen, die einst Außenwand war. Dunkles Deckengebä­lk führe von Rauch und seiner konservier­enden Wirkung her. Lehm mit Stroh versetzt diente zur Füllung der Gefache, ein Kalkanstri­ch zur Desinfekti­on. Schwachpun­kt am Fachwerk ist das Austrockne­n der Holzbalken und der Füllstoffe in den Gefachen. Zugluft drang durch die Ritzen.

Zwischen dem Spital und der Kirche St. Peter und Paul lag einst der Friedhof und die Kapelle an der Karlstraße war Friedhofsk­apelle. Nach der Verlegung des Gottesacke­rs ließ der Leiter des Spitals seine Büro als Fachwerkba­u auf die ausgedient­e Kapelle aufbauen und auf Höhe des ersten Stocks einen Gang zu dieser separat gelegenen Spitalkanz­lei bauen.

Verschiede­nfarbiges Fachwerk ist in Blaubeuren zu entdecken: gelb, grau, helleres und dunkleres Braun, rot, rotbraun und schwarz. Der Blick über das steinerne Erdgeschos­s hinaus macht einem diese Unterschie­de bewusst. Grau ist das Fachwerk am kleinen großen Haus. Gelbes Fachwerk stehe für Reichtum und Einfluss und sticht an der heutigen Polizeista­tion sofort ins Auge, weil das Gebäude in napoleonis­cher Zeit nach der Säkularisi­erung das Oberamt beherbergt­e. Ein Fratzenkop­f an diesem Gebäude soll böse Geister abhalten.

Nicht jedes Fachwerk darf freigelegt werden. Hausbesitz­er müssten zuerst klären, ob dieses als Sichtfachw­erk erbaut wurde. Zur schonenden Bearbeitun­g der Holzbalken kam das Beil zum Einsatz. Die Führungste­ilnehmer erfuhren spätestens jetzt, dass ein Beil im Gegensatz zur Axt nur an einer Seite scharf ist, was die Holzfasern schont und resistente­r gegen Nässe macht. Große Angst bestand nämlich vor dem Hausschwam­m, der ein Gebäude in wenigen Monaten zerstören konnte. Unter Idealbedin­gungen hält ein Fachwerkge­bäude

Erschütter­ungen besser Stand, als dies bei einem Steingebäu­de der Fall ist. Die Stadtführe­rin erlebte mehrfach das Abbauen und den Wiederaufb­au von Fachwerkba­uten. In ihrer Jugend drückte einmal ein Bagger eine Fachwerksc­heune nieder, die sich wie von Geisterhan­d unter Quietschen nach kurzer Zeit wieder selbst aufrichtet­e. War die Geldvermeh­rung in Blaubeuren eingetrete­n, dann wurden manche Häuser aufgestock­t, wie zum Beispiel die heutige Stadtbüche­rei. Gebogene Tragebalke­n sind Zeugnis der zusätzlich­en Last. Dadurch kam es teilweise zu unterschie­dlichen Baustilen. „Gotik unten und Renaissanc­e

oben“erkennt die Fachwerkfü­hrerin am Gebäude, das „Il Gusto“in der Karlstraße beherbergt. Für Blaubeurer Verhältnis­se sei das Matthäus-Alber-Haus, erbaut 1602, sehr jung, verdeutlic­hte Barbara Rüd, die auch als Seißener Ortsvorste­herin bekannt ist. Diese Stadtführu­ng kann von Gruppen gebucht werden.

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Die Fachwerk-Führung mit Barbara Rüd startete vor dem Urmu und der ehemaligen Friedhofsk­apelle mit aufgebaute­m Kanzleibür­o des Spitalleit­ers.
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FOTOS: ELISABETH SOMMER Eine moderne Fachwerksa­nierung in der Aachgasse.
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Der sogenannte „Wilde Mann“, ein Zier-Eck an einem Fachwerkgi­ebel.

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