Brezeln, Larven und Corona-Krise
Bundespräsident Steinmeier sucht und findet in Rottweil Bodenhaftung und Bürgerkontakt
ROTTWEIL - Auch im ländlichen Raum stehen die Autofahrer im Stau und fragen sich angesichts rasant steigender Spritpreise, wie sie die Fahrt zur Arbeit bezahlen sollen. Am Mittwoch hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Rottweil Sorgen und Nöte aus erster Hand erfahren: Bei der „Kaffeetafel kontrovers“ging es neben Mobilitätskonzepten, die gerade im ländlichen Raum lückenhaft sind oder sogar weithin fehlen, um bezahlbaren Wohnraum und das Leben nach der Corona-Krise.
Das Staatsoberhaupt hatte am Dienstag für drei Tage seinen Amtssitz nach Rottweil verlegt. Die Stadt ist nach Altenburg (Thüringen) und Quedlinburg (Sachsen-Anhalt) die dritte Station seiner „Ortszeit Deutschland“. Ziel sei, in Regionen zu gehen, „die relativ weit weg sind von Berlin“, so Steinmeier. Hier könnten manche Perspektiven anders sein. Eine Stadt, die die „Spannung zwischen Tradition und Moderne gut bewältigt“. Das habe ihn und seine Begleiter interessiert. „Ich werde hier sehr freundlich empfangen“, sagt Steinmeier zwischen vielen Fotos mit Passanten im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Er selber trägt zur freundlichen Stimmung bei. Geduldig lässt er sich fotografieren, ausfragen, will ins Gespräch kommen, kommt auch ins Gespräch.
Dass ein Bundespräsident auch „draußen im Land“auf aktuelle Ereignisse reagiert und seine Amtsgeschäfte wie gewohnt weiterführen muss, erleben die Rottweiler ebenfalls. Denn Steinmeier erfährt zwischen zwei Terminen von dem tödlichen Auto-Vorfall in Berlin auf der beliebten Einkaufsmeile nahe der Gedächtniskirche und äußert sich bestürzt. „Meine Gedanken sind bei den schwer und sehr schwer Verletzten, bei dem Todesopfer“, erklärt er. „Und sie sind bei denen, die Schreckliches erleben mussten. Mein tiefes Mitgefühl gilt ihnen, allen Angehörigen und Hinterbliebenen.“
Steinmeier erfährt an diesem Mittwoch viel über den Stolz der Kleinstadt am Neckar mit ihren rund 25 000 Einwohnern. Im Jahr 2021 feierten sie 1250 Jahre, die urkundliche Ersterwähnung. Der erste Termin, morgens um 6 Uhr, führt ihn in eine Backstube, er will Brezeln schlingen. Dann geht es zur Narrenzunft. Dort spricht er mit Narrenmeister Christoph Bechtold und lässt sich die Eigenheiten
des Brauchtums der Fasnet erläutern. Bechtold erklärt dem Bundespräsidenten, dass die Masken, die in Rottweil Larven genannt werden, immer noch vor Ort geschnitzt werden.
Weiter geht es zur „Kaffeetafel kontrovers“mit etwa einem Dutzend ehrenamtlich tätiger Bürger. Hier könnten die von Steinmeier gewünschten verschiedenen Perspektiven ausgeleuchtet werden. Da in Rottweil über mehrere Monate hinweg wöchentlich etwa 1400 Menschen gegen die Corona-Maßnahmen demonstriert hatten, war einer der „Querdenker“persönlich eingeladen worden. Doch der Mann kommt nicht. Er hatte den Präsidenten am Morgen auf dem Wochenmarkt getroffen und ihm ein Schreiben übergeben. Nun werde er nicht mehr an der Diskussion teilnehmen. Es habe „keinen Sinn“. Steinmeier ist „ehrlich gesagt enttäuscht“, dass der persönlich eingeladene Corona-Kritiker abgesagt habe. Leicht angesäuert bedauert der Präsident die mangelnde Gesprächsbereitschaft: „Ich hätte mir gewünscht, dass wir in die Debatte kommen mit den Menschen, die immer noch gegen was auch immer demonstrieren.“
Peter Bruker von den Rottweiler Kreis-Grünen berichtet, dass die Demonstrierenden auch nach Wegfall fast aller Corona-Maßnahmen einen offen antidemokratischen, staatsfeindlichen Antrieb hätten. Die Kritik an „denen da oben“stehe im Vordergrund. Ähnliche Erfahrungen hat Christoph Sander, Leiter der Waldorfschule, gemacht. Es sei nicht gelungen, mit den Gegnern der Corona-Maßnahmen in Dialog zu treten. Zwölf Familien habe man verloren. „Elternmeinungen klaffen so weit auseinander wie nie zuvor“, sagt eine Elternbeiratsvorsitzende. Und die Vertreterin der Organisation „Frauen helfen Frauen“berichtet von drastischen Folgen der Pandemie im Bereich der häuslichen Gewalt: „Es gab keine Freiräume.“
Dann beschäftigt sich die Runde mit der Kontroverse um die Mobilität. Die Vertreter der Lokalen Agenda wollen am liebsten Autos aus der Stadt verdrängen. Ein Einzelhändler, er führt ein Modegeschäft, sieht diesen Plan naturgemäß kritisch. Er schildert dem Bundespräsidenten die vielen Herausforderungen, vor denen der Handel stehe: Die Kunden würden die innenstadtnahen Parkplätze sehr schätzen, das Auto müsse nah am Zentrum abgestellt werden können.
Zuvor, bei einem Rundgang, hatte der Präsident feststellen können, dass Rottweil wie so viele Kleinstädte die beste Zeit offensichtlich hinter sich hat. Die Besitzer der stolzen Bürgerhäuser in der Innenstadt der ehemaligen freien Reichsstadt haben nach der massenhaften Abwanderung
vieler inhabergeführter Einzelhandelsgeschäfte ihre Ladenlokale vermieten müssen: Neben dem Nagelstudio wirbt das Gar-Restaurant „Asia Gourmet“, ganz in der Nähe kann man im „Bistro United“den kleinen Hunger stillen. Der Nachtclub „Lido Bar“hat zur Mittagszeit noch nicht geöffnet. „Ja, die CoronaKrise hat uns schwer zugesetzt“, räumt Stadtsprecher Tobias Hermann ein, „mancher Betrieb hat es nicht geschafft.“
Nicht nur Betriebe haben zu kämpfen, auch bringen die aktuellen Preissteigerungen viele Bürger in Bedrängnis, berichten Mitarbeiter der Wohlfahrtsverbände. Guido Speiser vom Mieterverein befürchtet eine enorme Betriebskostenexplosion. Bernhard Merz schildert aus Investoren- und Maklersicht den angespannten Wohnungsmarkt in Rottweil und die enorm hohe Nachfrage. Und auch hier: Die Preissteigerungen bringen vieles aus dem Lot.“
Die Zeit rückt an der Kaffeetafel schnell voran. Der Präsident hat vor allem zugehört. Ein Fazit, das Steinmeier aus der Runde zieht: „Das große Rückgrat dieser Gesellschaft sind die vielen Ehrenamtlichen.“Er werde die Ergebnisse in seine regelmäßigen Gespräche mit den Ministern der Bundesregierung einfließen lassen: „Selbstverständlich ist das, was ich hier aufnehme, auch Gegenstand solcher Gespräche.“