„Die Ukraine besitzt eine eigenständige Musiktradition“
Vitalii Protasov, Dirigent des Kiev Symphony Orchestra, spricht über die Klassik seiner Heimat und besondere Konzerte in Deutschland
Das Kiev Symphony Orchestra konnte Anfang April aus der von Russland angegriffenen Ukraine ausreisen. Rund 85 Musikerinnen und Musiker sind seither, manche mit ihrer Familie, in drei Bussen auf Konzertreise in Österreich und Deutschland. Derzeit leben die Musiker in der Landesakademie Ochsenhausen (Kreis Biberach), wo sie am Samstag ein Konzert geben. Im Gespräch mit Jonas Voss erzählt der Dirigent Vitalii Protasov (Foto: Sofiia Protasova) von der Kunst ukrainischer Komponisten und von der Ungewissheit eines Lebens in steter Sorge um die Heimat.
In Ihrer Heimat herrscht Krieg, es gibt Kriegsverbrechen – wie schwer fällt es Ihnen, da Musik zu machen?
Wir sind nun auf Konzertreise und repräsentieren die Ukraine und die ukrainische Kultur. Sicher, ich verfolge jeden Tag die Nachrichten und mein Herz blutet angesichts dessen, was Russland in unserem Land anrichtet. Musik macht man mit seiner Seele und als Dirigent oder Musiker lässt man seine Gefühle natürlich in die Art zu spielen strömen. Manchmal ist es schwierig. Wir tun, was in unserer Macht steht, um unserem Land zu helfen und die Kultur der Ukraine bekannter zu machen: Wir wollen den Menschen Europas zeigen, dass die Ukraine eine eigenständige, jahrhundertealte Musiktradition mit erstklassigen Künstlern besitzt. Künstler wie Maksym Berezovsky oder Borys Lyatoshynsky. Aber zu unseren Konzerten kommen auch viele geflüchtete Ukrainer. Das ist immer sehr emotional und uns ist es sehr wichtig, dass wir so ein wenig Heimatgefühle vermitteln können.
Letzteren werden Sie auch am Samstag spielen. Was macht ihn aus?
Lyatoshynsky ist ein Komponist des vergangenen Jahrhunderts und der „Vater“der ukrainischen Moderne in der Musik. Viele danach bedeutende Künstler haben von ihm gefangen lernt und wurden durch ihn beeinflusst. Sein Erbe ist sehr bedeutend für die ukrainische Hochkultur. Seine Musik ist so einzigartig und kraftvoll – auf dem gleichen Niveau wie andere europäische Komponisten.
Sie erwähnten Maksym Berezovsky – spielen Sie ihn auch am Samstag, um das deutsche Publikum so vertraut mit den Wurzeln Ihrer Musik zu machen?
Am Samstag spielen wir noch Beethoven, aber Berezovsky ist Teil anderer Konzerte. Er wurde im 18. Jahrhundert im Norden der heutigen Ukraine geboren und hat dort angezu musizieren, später in Italien beim gleichen Lehrer wie Mozart gelernt. Anschließend ging er an den Zarenhof in St. Petersburg. Heute wird er als russischer Künstler bezeichnet, was er nicht war. Er war ein europäischer Künstler.
Hat es eine besondere Bedeutung, dass Sie am Samstag einen ukrainischen Künstler zusammen mit Beethoven aufführen, der als europäischer Künstler gilt?
Es ist schlicht eine interessante Kombination und bietet dem Publikum eine bekannten Komponisten, sollten sie mit der Musik Lyatoshynskys
erstmals in Berührung kommen.
Wie reagierte das Publikum auf den bisherigen Stationen Ihrer nicht freiwilligen Konzertreise auf die Musik ukrainischer Komponisten? Für viele dürfte es das erste Mal gewesen sein, solche zu hören. Die Menschen freuen sich, sie fühlen mit, sie haben Fragen. Sie sagen, „unglaublich – wie konnten uns diese Künstler vorher so völlig entgehen?“. Insbesondere das deutsche Publikum ist sehr gebildet und neugierig, was die Welt der klassischen Musik betrifft.
Welche Bedeutung hat die klassische Musik in der Ukraine? Ähnlich wie in Deutschland, wo ihr eine enorme künstlerische und intellektuelle Bedeutung zugesprochen wird, sie aber gleichzeitig unter ihrem angestaubten Image leidet?
In der Ukraine wechselt das sehr, beinahe wellenartig. In gewissen Phasen gibt es ein reges Interesse an klassischer Musik, dann nimmt es wieder ab, ehe es wieder zunimmt. Derzeit gibt es viele junge Musikerinnen und Musiker. Wir haben nicht die lange Tradition, regelmäßig in Opern oder Konzerthäuser zu gehen. Aber die jungen Menschen sind neugierig und offen. Wir Orchester versuchen auch, moderne Einflüsse wie DJ-ing in unsere Arbeit einfließen zu lassen, um so mehr Aufmerksamkeit bei der Jugend zu gewinnen.
Steht ihre Konzerthalle in Kiew denn noch?
Ja, aber derzeit sind dort keine Konzerte möglich ... Wir konnten gerade so unsere Instrumente retten, die nach den ersten Angriffen hektisch beiseite gepackt wurden.
Wissen Sie schon, wo Sie nach Ochsenhausen spielen werden? Leider nein. Unsere Situation ist schwierig – trotz all der großzügigen Unterstützung die wir erfahren. Wir schauen von Woche zu Woche. Der 24. Februar war ein harter Bruch in unser aller Leben. Vorher hatte man Pläne für seine Zukunft, jetzt ist das nicht mehr möglich. Ich hoffe, wir finden rasch einen weiteren Konzertort. Aktuell können wir hier auf dem Gelände der Akademie leben, wofür wir sehr dankbar sind, aber das ist natürlich keine Dauerlösung.
In einer vor dem Krieg geplanten Tour war vorgesehen, dass Sie auch russische Komponisten spielen. Würden Sie das jetzt noch tun? Nein. Unsere Herzen schmerzen, wenn wir an Russland und das, was es tut, denken. Früher haben wir auch mal Sergei Prokofjew gespielt, immerhin ein geborener Ukrainer. Aber wie so viele ukrainische Künstler hat ihn Russland für sich beansprucht.
Halten Sie es denn für richtig, dass russische Künstler von Auftritten und Engagements ausgeschlossen werden?
Absolut. Erfolg oder Ansehen eines Künstlers strahlen immer auch auf sein Land ab und mit Russland sollte derzeit nichts Positives in Verbindung gebracht werden.
Das Kiev Symphony Orchestra spielt am Samstag, 11. Juni, um 19 Uhr im Bräuhaussaal der Landesakademie in Ochsenhausen. Der Eintritt ist kostenlos, Spenden sind bei diesem Benefizkonzert willkommen.