Kein Licht am Ende des Tunnels
Seit 1966 durchschneidet eine Stadtautobahn den Englischen Garten in München. Abhilfe sollte eine Unterführung schaffen. Doch nun will die grün-rote Rathausmehrheit das Projekt beerdigen – zum Ärger der Unterstützer.
MÜNCHEN - Das Plakat hängt noch immer dort – trotz allem, was geschehen ist. Allein Petra Lejeune und Hermann Grub, auf deren Betreiben der großformatige Anschlag hier im Englischen Garten dereinst angebracht wurde, würdigen ihn an diesem Vormittag keines Blickes. „Der Parktunnel kommt!“, prangt dort in fetten Lettern. Und darunter: „Danke Stadt München, Danke Freistaat Bayern!“
Dass Petra Lejeune und Hermann Grub nun also ohne einen Seitenblick an dem Plakat vorbeieilen, passt zu ihrer Gemütslage – denn nach Dankesworten in Richtung Stadt ist den beiden nicht mehr zumute. Im Gegenteil: „Wut und Enttäuschung“verspüre sie, sagt Petra Lejeune wenig später, kaum dass sie und ihr Mann im Seehaus-Biergarten Platz genommen haben. Acht Jahre lang hat das Architekten-Ehepaar nimmermüde für einen Tunnel im Englischen Garten gekämpft, um den von einer Stadtautobahn geteilten Park wiederzuvereinigen. 2017 – aus jener Zeit stammt das Plakat – wähnten sie sich am Ziel, nachdem der Stadtrat das Projekt einstimmig befürwortet hatte. Doch nun bahnt sich im Rathaus eine Kehrtwende an: Die grün-rote Koalition will die TunnelPläne beerdigen.
„Für uns ist das völlig überraschend gekommen“, beginnt Petra Lejeune, ehe ihr Hermann Grub ins Wort fällt. Der 82-Jährige und seine Frau sind – das wird schon nach wenigen Minuten deutlich – ein geübtes Erzähler-Tandem. Wie bei vielen Paaren, die jahrzehntelang zusammen leben und obendrein zusammen arbeiten, unterbrechen sich die beiden regelmäßig, um die Worte des anderen zu berichtigen, zu bekräftigen oder mit den eigenen Gedanken zu bereichern. „Es ist unfassbar, was da passiert“, sagt nun also Hermann Grub, während die Spitzen seines Schnauzers vor Erregung beben. „Da wird eine einmalige Chance für die Zukunft der Stadt verspielt.“Und zwar eine, das fügt seine ebenso aufgebrachte Frau hinzu, „die nicht mehr wiederkommt, wenn man sie heute verspielt“.
Die Empörung der beiden passt so gar nicht zur pittoresken Umgebung hier am Ufer des Kleinhesseloher Sees. Rundum hat der Frühling den Englischen Garten in sattes Grün getaucht, die Sonne strahlt auf die noch verwaisten Biertische, allseits zwitschern Vögel von den Bäumen, und nur wenige Meter entfernt brütet auf dem Wasser ein Blässhuhn in seinem Nest – einerseits. Andererseits dringt deutlich vernehmbar das Gedröhn von Autos ans Ohr, was einen direkt zum Ärger des ArchitektenEhepaars bringt.
Denn keine hundert Meter von hier verläuft der Isarring mitten durch den Englischen Garten. Dieses Teilstück des Mittleren Rings – die Münchner Stadtautobahn gilt als staureichste Straße in Deutschland – wurde 1966 erbaut. Heute brettern dort täglich an die 120 000 Fahrzeuge über den Asphalt. Seit mehr als einem halben Jahrhundert zerschneidet der vierspurige Isarring den Englischen
Garten in einen deutlich kleineren Süd- und einen deutlich ruhigeren Nordteil. Oder wie es Petra Lejeune ausdrückt: „Das ist eine Wunde, die mitten durch dieses Kleinod geht.“
Sie zu heilen, dieser Aufgabe haben sich Petra Lejeune und Hermann Grub verschrieben. Im Jahr 2009 legten sie Pläne für einen Tunnel durch den Englischen Garten vor – 390 Meter lang, an der Oberfläche üppig bepflanzt, „hier rein, dort raus, im Grunde eine simple Unterführung“, sagt Hermann Grub, der gebürtig aus Bermaringen im Alb-Donau-Kreis stammt, seit über 50 Jahren aber in München lebt. Er und seine Frau warben fortan öffentlichkeitswirksam um Unterstützung für ihre Idee, sammelten Zigtausende Unterschriften und Millionen an Spenden, beauftragten eine Machbarkeitsstudie sowie eine repräsentative Umfrage, bei der sich 83 Prozent der Stadtbewohner für den Tunnel aussprachen. „Wie das Projekt damals Fahrt aufgenommen hat, war einfach unglaublich“, setzt Hermann Grub an, worauf ihn diesmal seine Ehefrau unterbricht: „Die Münchner lieben diesen Park“, betont die 73-Jährige. „Der Englische Garten ist ein Synonym für München und etwas, um das uns die ganze Welt beneidet.“
Tatsächlich gehört der Park zu den größten innerstädtischen Grünanlagen überhaupt. Mit einer Fläche von 375 Hektar übertrumpft er sogar den Central Park in New York – ein Vergleich, der zum kleinen MünchenABC eines jeden Lokalpatrioten gehört. Gegründet wurde der Englische Garten von Kurfürst Karl Theodor, der 1789 den Auftrag erteilte, entlang der Isar einen Park anzulegen – ursprünglich nur für Soldaten, die sich dort in Friedenszeiten erholen und landwirtschaftliche Fähigkeiten erlernen sollten. Wohl auch als Reaktion auf die Französische Revolution und die aufgeheizte Stimmung im Land, entschied der Regent jedoch alsbald, die Anlage als Volkspark für alle Bürger zu öffnen. Der anfängliche Name „Theodors Park“wurde später von der Bezeichnung „Englischer Garten“abgelöst – als Referenz auf den gleichnamigen und damals neuartigen Gartenstil, der sich am Vorbild der Natur orientiert.
Heute ist der Englische Garten ein Volkspark im Wortsinn: Fünf Millionen Menschen spazieren, joggen und radeln hier pro Jahr, baden in Isar oder Eisbach, gehen mit ihren Hunden Gassi, picknicken auf der Wiese unterhalb des Monopteros oder spülen ihre Brezen samt Obazda mit einer Mass Bier im Biergarten am Chinesischen Turm hinunter. Ihr Mann und sie seien fast täglich im Englischen Garten, sagt Petra Lejeune. Wann immer es das Wetter erlaube, radle man vom Büro in Schwabing zum Mittagessen in den AumeisterBiergarten im Norden des Parks.
Auf dem Weg dorthin fahren die beiden dann über eine schmale Brücke, unter der jene Autos auf dem Isarring entlangrollen, die sie so gerne unter die Erde verbannen würden. Stunden, Tage und Wochen voller Arbeit haben Grub und Lejeune in ihre Tunnel-Initiative gesteckt – ohne Auftrag und ohne Honorar, aber mit zunehmendem Erfolg. So finanzierte die Allianz Umweltstiftung eine umfassende Machbarkeitsstudie, auch die Bundesregierung spendierte 2,7Millionen Euro für die Planung, und 2016 sicherte der Freistaat eine Förderung über 35 Millionen Euro zu. Derweil gewann das umtriebige Ehepaar nicht nur Herzog Franz von Bayern, den Chef des Hauses Wittelsbach, als Fürsprecher für seine Tunnel-Pläne. Sondern auch Hans-Jochen Vogel, in dessen Amtszeit als SPD-Oberbürgermeister der Isarring gebaut worden war, sprach sich für eine Verlegung von selbigem unter die Erde aus.
2017 stimmte der Münchner Stadtrat schließlich einstimmig für einen Tunnel im Englischen Garten. Ein Jahr später erhielten Petra Lejeune und Hermann Grub die städtische Verdienstmedaille aus der Hand von Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD). Zuvor hatten die beiden infolge des Stadtratsbeschlusses all ihre Pläne ans Rathaus übergeben. Fortan hätten sie von dort nichts mehr gehört, sagt Hermann Grub – bis zum vorigen Herbst. Da drangen erstmals Gerüchte über eine Untersuchung des Baureferats an die Öffentlichkeit, wonach für den Tunnel fast 900 große Bäume gefällt werden müssten. Dies nahm die grün-rote Rathauskoalition zum Anlass, die Pläne neu zu bewerten – und sie vor wenigen Wochen zu beerdigen. Zwar steht ein Stadtratsbeschluss hierzu noch aus. Jedoch haben die Fraktionen von Grünen/Rosa Liste und SPD/Volt deutlich gemacht, dass sie das Projekt nicht weiter verfolgen werden.
„Wir wollen nicht als rot-grüne Koalition in die Geschichte eingehen, die Bäume fällt, um flüssigen Verkehr zu bekommen“, sagt Nikolaus Gradl. Der 44-Jährige ist verkehrspolitischer Sprecher der SPD-Stadtratsfraktion und überdies gebürtiger Münchner, was ihn zu einer innigen Beziehung zum Englischen Garten quasi verpflichtet. Schon als Kind habe er dort viel Zeit verbracht, sagt Gradl – vor allem rund um den Eisbach, dessen stehende Welle viele Surfer und noch mehr Touristen anzieht. Später studierte er dann Informatik an der LMU München, in einem Unigebäude nur einen Steinwurf vom Chinesischen Turm entfernt. Und auch heute, sagt Gradl, sei er noch oft im Englischen Garten – vornehmlich im Nordteil, wo die Natur wilder und der Trubel geringer ist, und wo man anders als im Süden des Parks eher auf eine Herde Schafe stößt denn auf eine Herde Touristen, die entgeistert die nackerten Sonnenanbeter am Schwabinger Bach bestaunt.
Kurzum, Nikolaus Gradl weiß durchaus um die Bedeutung des Englischen Gartens für München und seine „massive Naherholungsqualität für alle diejenigen, die nicht mit dem Auto in die Berge oder zu einem der Seen fahren“. Auch deshalb hält er eine Wiedervereinigung des Parks „prinzipiell für eine gute Idee“, wie er sagt – bevor er zu einem langen Aber ansetzt. Denn Hunderte große Bäume zu fällen, sei schlicht ein zu großer Preis, findet Gradl. Zudem fürchtet er, dass das Tunnel-Projekt „die Münchner Stadtgesellschaft spalten könnte – in Naturschützer und Naturdenkmalschützer“.
Ähnlich hört sich das bei den Grünen im Stadtrat an. „In Betrachtung der Klimabilanz dieses Bauvorhabens, in die neben den Baumfällungen auch die vielen Tonnen von verbautem Beton mit einfließen müssen, sehen wir uns nicht in der Lage, diesem Projekt zuzustimmen“, sagt Fraktionschefin Anna Hanusch. „Diese im Zielbild durchaus grüne Idee passt in der tatsächlichen Umsetzung leider nicht zu unserer Aufgabe, Klimaneutralität zu erreichen.“
Kritik an dieser Haltung kommt nicht nur von den Initiatoren des Tunnel-Projekts, sondern auch von der CSU-Fraktion. Beide monieren, dass das städtische Baureferat keine Angaben dazu gemacht habe, wie es zu seinen Zahlen gekommen sei. So verweist Hermann Grub auf frühere Untersuchungen, die von 550 zu fällenden Bäumen ausgegangen waren. „Wir haben bis heute keine Erklärung bekommen, warum sich diese Zahl aus heiterem Himmel fast verdoppelt hat.“Und ohnehin, ergänzt Petra Lejeune, seien die Baumfällungen doch nur ein „vorgeschobenes Argument“, um die Pläne zu beerdigen. Etwas anders sieht das naturgemäß Nikolaus Gradl. „Ich glaube, dass sich da gesellschaftlich etwas verändert hat“, sagt der SPD-Stadtrat. „Ökologische Themen haben eine größere Bedeutung bekommen. Und solche massiven Baumfällungen werden nicht akzeptiert.“
Ebenso wie Gradl wähnen jedoch auch Petra Lejeune und Hermann Grub die Mehrzahl der Münchner auf ihrer Seite. Die beiden wollen ihren Kampf für den Tunnel nun wieder aufnehmen, unter anderem mit einer Petition an den Bayerischen Landtag. „Dieses Projekt kann gar nicht sterben“, gibt sich Hermann Grub überzeugt, „weil es in den Köpfen und Herzen der München so tief verankert ist.“