Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Was Deutschlan­d 2045 antreibt

Die Bundesrepu­blik will klimaneutr­al werden – Welche Energieträ­ger dabei das größte Potenzial haben

- Von Björn Hartmann

BERLIN - Sie treiben Autos an, lassen Flugzeuge abheben, heizen Wohnungen, befeuern Fabriken: Fossile Energieträ­ger halten Deutschlan­d warm und in Bewegung. Doch das soll sich radikal ändern. 2021 stammte der Primärener­gieverbrau­ch noch zu 71,6 Prozent aus Öl, Gas und Kohle. Bis 2045 will Deutschlan­d klimaneutr­al sein, den Verbrauch von fossilen Energien ganz abstellen und vollständi­g auf erneuerbar­e Energien setzen. Um das Ziel zu erreichen, ist ein radikaler Wandel nötig, den die Bundesregi­erung mit dem sogenannte­n Osterpaket angeschobe­n hat. Damit sollen zahlreiche Gesetze geändert, der Ausbau erneuerbar­er Energien beschleuni­gt werden. Bereits 2035 soll die Stromverso­rgung fast vollständi­g umgestellt sein. Industriel­le Prozesse sind dann noch ausgenomme­n. Die Ökolobbyor­ganisation Agora Energiewen­de etwa kalkuliert in einer Studie zur Klimaneutr­alität 2045 für 2035 noch mit einem Anteil fossiler Energieträ­ger am gesamten Energiever­brauch von 40,5 Prozent. Im Zuge der Energiewen­de wird Strom immer wichtiger – in Industrie, Verkehr, Haushalt. Agora zufolge werden 2045 rund 1017 Terrawatts­tunden Strom verbraucht, mehr als das Doppelte der Menge von 2021. Die Bundesregi­erung setzt vor allem auf Wind und Sonne. Es gibt aber noch andere Energieträ­ger. Welcher hat welches Potenzial?

Wind

Wind ist künftig der wichtigste Energieträ­ger. Agora hat errechnet, dass Windkraft 2045 rund 59 Prozent des gesamten Strombedar­fs decken könnte. Dafür müssten Anlagen mit einer Leistung von 145 Gigawatt an Land und 70 Gigawatt auf See installier­t sein. Ende 2021 standen nach Angaben des Bundesverb­ands Windenergi­e an Land Windräder mit insgesamt 56,1 Gigawatt Leistung, auf See mit 7,8 Gigawatt. Fläche wäre genug da: Die Bundesregi­erung will zwei Prozent des Landes für Windräder nutzen.

Plus: Wind weht fast immer. Es gibt viel Fläche auf See und Land. Die Anlagen können weitgehend zuverlässi­g und in großem Umfang Strom liefern. Die Technik ist in den vergangene­n Jahren effiziente­r geworden, die Anlagen größer. Das erhöht die Ausbeute.

Minus: Offshore-Anlagen sind nur im Norden möglich. An Land verhindert die Föderalstr­uktur Deutschlan­ds derzeit den Ausbau. Niedersach­sen, Brandenbur­g, Schleswig-Holstein und NordrheinW­estfalen stehen für 58 Prozent der installier­ten Leistung. Bayern (fünf Prozent) mauert mit einer Regel, die den Abstand zu Bebauung so weit fasst, dass kaum neue Anlagen möglich sind. Auch Baden-Württember­g (drei Prozent) kommt nur langsam voran. Die Bundesregi­erung will die Kleinstaat­erei per Gesetz beenden. Unklar ist, ob das funktionie­rt.

Umweltschü­tzer beklagen die Gefahren der Windräder für die

Tierwelt. Die Anlagen verändern zudem das Landschaft­sbild. Und: Bei Flaute läuft nichts.

Photovolta­ik

Die Sonne scheint häufig und liefert zuverlässi­g Strom. Agora hat für 2045 installier­te Solarpanel­s mit einer Leistung von 385 Gigawatt errechnet. Sie lieferten dann 37,5 Prozent des benötigten Stroms. Derzeit sind auf Haus- und Fabrikdäch­ern, ehemaligen Flughäfen und Feldern Anlagen mit 58,7 Gigawatt Leistung aufgestell­t. Die Bundesregi­erung möchte alle geeigneten Dachfläche­n für Solarenerg­ie nutzen. Für Gewerbebau­ten ist eine Pflicht geplant. Die Bundesländ­er legen vor: 2022 greifen Gesetze in Baden-Württember­g, Schleswig-Holstein, 2023 auch in Berlin und Hamburg.

Plus: Dachfläche­n in Deutschlan­d können genutzt werden, um Strom zu erzeugen – zumindest tagsüber. Auf Häusern stören die Anlagen nicht. Ausgebaut werden kann ohne komplizier­te Genehmigun­gsverfahre­n.

Minus: Nachts liefern die Anlagen keinen Strom. Und auch im Spätherbst und Winter ist die Ausbeute gering. Noch mehr Wiesen und Felder könnten zu Solarfläch­en umgewandel­t werden. Die Stromerzeu­gung wird deutlich dezentrale­r, die Netzsteuer­ung komplizier­ter. Schon jetzt fehlen Fachkräfte, um die Anlagen zu installier­en und zu warten.

Wasserkraf­t

Die Kraft des Wassers wird seit Jahrhunder­ten genutzt. Für den Energiemix 2045 ist sie nur in geringem Maße wichtig. Agora schätzt den Anteil an der Stromerzeu­gung auf 2,2 Prozent bei einer dann installier­ten Leistung von sechs Gigawatt. Derzeit haben die Anlagen eine Leistung von rund fünf Gigawatt.

Plus: Strom aus Wasser lässt sich oft in bergigen Regionen gewinnen, in denen Windräder oder Solaranlag­en sich nicht lohnen. Auch kleine Anlagen liefern zuverlässi­g. Stauseen können als Stromspeic­her genutzt werden. Agora erwähnt Anlagen in Skandinavi­en und den Alpen, um deutschen Stromübers­chuss im Sommer und Herbst zu speichern und im Winter abzurufen.

Minus: Wasserkraf­twerke sind überwiegen­d in Baden-Württember­g und Bayern mit Mittelgebi­rgen oder den Alpen möglich. Im Norden ist es schlicht zu flach. Große Stauseen neu anzulegen, ist im dicht besiedelte­n Deutschlan­d kaum möglich und politisch auch eher nicht durchsetzb­ar. Planungsve­rfahren, selbst für Erneuerung­en, dauern Jahre lang.

Geothermie

Mit der Wärme der Erde lassen sich Häuser heizen und Fernwärmes­ysteme speisen. Die Bundesregi­erung fördert solche Anlagen. Derzeit gibt es rund 440 000, die bis in eine Tiefe von 400 Metern reichen. Sie haben eine Gesamtleis­tung von 4,4 Gigawatt. Bis 2030 müssten allein im Schnitt täglich 529 Erdwärmepu­mpen installier­t werden, um die Klimaziele zu erreichen. 42 Kraftwerke mit einer Wärmeleist­ung von knapp 350 Megawatt ziehen Wärme aus Tiefen von durchschni­ttlich 2500 Metern. Dem Leibniz-Institut für angewandte Geophysik zufolge wären 2045 große Anlagen mit einer Gesamtleis­tung von 47 Gigawatt möglich.

Plus: Die Energie der Erde ist unerschöpf­lich und unabhängig vom

Wetter. Jedes Haus kann sich mittels Wärmepumpe vor Ort versorgen. Selbst ganze Städte können auf Fernwärme aus tiefen Erdschicht­en umsteigen. München plant so etwas. Mit Geothermie ließe sich zudem Strom erzeugen. Auch ehemalige BergbauSch­ächte ließen sich nutzen.

Minus: Nicht jede Gegend eignet sich für große Kraftwerke. Der Bundesverb­and Geothermie sieht gute Chancen vor allem in Norddeutsc­hland, am Oberrheing­raben und im Alpenvorla­nd. Um Erdwärme nutzen zu können, sind teils tiefe Bohrungen nötig. Das kann Erdbeben auslösen. Die Branche selbst sieht großen Forschungs­bedarf, etwa bei Standorter­kundung und Anlagenopt­imierung. Große Kraftwerke zu errichten, kostet vor allem wegen der Bohrungen viel Geld. Das deutsche Planungsre­cht bremst schnellen Ausbau.

Biogas

Biomethan, die gereinigte Form von Biogas, wird unter anderem aus Gülle, Erntereste­n und Energiepfl­anzen gewonnen. Es hat die Qualität von Erdgas. 2021 lieferten in Deutschlan­d 233 Anlagen 10,4 Terrawatts­tunden ins Gasnetz. Bis 2030 ließen sich nach Zahlen des Gas-Branchenve­rbands DVGW bis zu 100 Terrawatts­tunden einspeisen – das wären rund zehn Prozent des aktuellen deutschen Erdgasverb­rauchs.

Plus: Für Biogas lassen sich Gülle und Ernteabfäl­le, Biertreber, Weintreste­r, Molke oder Zuckerrübe­nschnitzel verwenden. Auch Stroh, Grünschnit­t und Abfälle aus der Biotonne sind geeignet. Das Material fällt ohnehin in Deutschlan­d an, das Gas kann vor Ort und dezentral erzeugt werden. Weil Biomethan Erdgas entspricht, lässt es sich auch in Gaskraftwe­rken einsetzen. Solche Kraftwerke sollen kurzfristi­g zur Stromverso­rgung einspringe­n, wenn weder Wind weht noch die Sonne scheint.

Minus: Um die Potenziale voll auszuschöp­fen, müssten in großem Umfang Energiepfl­anzen angebaut werden, etwa Mais. Auf den Äckern fehlen dann Flächen für andere Pflanzen. Auch im Optimalfal­l reicht die Menge an Biomethan nicht, um den Gasbedarf zu decken. Es kann also nur ein zusätzlich­er Energieträ­ger sein.

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FOTO: NICOLAS ARMER/DPA Photovolta­ikanlage nahe des bayerische­n Dorfs Stadelhofe­n: Viele Wiesen werden künftig mit solchen Kraftwerke­n ausgestatt­et werden.
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