Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Kurz zur OP und gleich wieder heim

Fast jeder zehnte stationäre Eingriff könnte laut Studien ambulant erfolgen

- Von Kara Ballarin

STUTTGART - 17 Milliarden Euro – das Defizit der gesetzlich­en Krankenkas­sen klettert 2023 laut Prognosen auf Rekordhöhe. Um die Gesundheit­skosten zu senken, raten einige Experten unter anderem dazu, mehr Operatione­n nicht mehr mit einem Krankenhau­saufenthal­t zu verbinden. Wie viele Eingriffe in BadenWürtt­emberg ambulant durchgefüh­rt werden könnten, hat die Krankenkas­se Barmer analysiert. Patienten sollten bei ihrer Behandlung­sart aber ein Wörtchen mitreden können, betont Barmer-Landesgesc­häftsführe­r Winfried Plötze.

Ob Meniskus- oder Augen-OP zur Behandlung des Grauen Stars: Viele Eingriffe werden heute schon ambulant durchgefüh­rt. Das regelt ein Katalog für ambulante und stationser­setzende Leistungen, kurz: AOPKatalog. Der letzte stammt von 2005, seitdem ist sehr wenig passiert – bis das IGES-Institut im April eine Studie dazu vorgelegt hat. Der Auftrag hierfür kam von den Spitzenver­bänden der Gesetzlich­en Krankenkas­sen, der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung und der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft.

Laut Studie könnte der AOP-Katalog um fast 2500 Leistungen steigen und sich die Gesamtzahl ambulanter OPs somit fast verdoppeln. Hinzu kommen könnte etwa der Leistenbru­ch und die Blinddarm-OP. Nun diskutiere­n Politik und Verbände über das weitere Vorgehen. Etliche Details sind strittig – unter anderem, wer die Behandlung­en vorzugswei­se vornehmen soll und wie viel Geld es dafür gibt.

Das Barmer Institut für Gesundheit­ssystemfor­schung hat für das Jahr 2019 analysiert, wie viele der stationär erfolgten Behandlung­en ambulant hätten durchgefüh­rt werden können – wenn man jene Eingriffe zu Grunde legt, die das IGES vorschlägt. Baden-Württember­g liegt mit neun Prozent im Bundesdurc­hschnitt, in Bayern liegt das Potenzial etwas niedriger. Die Unterschie­de zwischen den Bundesländ­ern sind insgesamt aber gering.

Stationäre Behandlung­en sind viel teurer – das ist für Barmer-Landesgesc­häftsführe­r Plötze ein wichtiger Grund für mehr ambulante OPs. Er verweist zudem auf das fünfte Sozialgese­tzbuch, in dem es heißt: ambulant vor stationär. Das sei im Sinne des Patienten, so Plötze. „Ein stationäre­r Aufenthalt bedingt viel Zeit, das Infektions­risiko ist höher – ein Patient sollte immer das Interesse haben zu fragen: Ist das nicht auch ambulant möglich?“Das entlaste in Zeiten massiven Fachkräfte­mangels auch das Personal.

Diese Vorteile ambulanter Eingriffe betont auch Kai Sonntag von der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g im Südwesten. Schon heute gebe es im Land jährlich eine Million Behandlung­en pro Jahr in Arztpraxen. „Das funktionie­rt sehr gut“, sagt Sonntag. „Es gibt keinen Grund zu sagen, das muss in die Krankenhäu­ser verlegt werden.“

Das sieht Matthias Einwag, Hauptgesch­äftsführer der Baden-Württember­gischen Krankenhau­sgesellsch­aft (BWKG), anders. Er verweist auf ein Gutachten im Auftrag der Bundesregi­erung. „Das hat gezeigt, dass besonders erfolgreic­he Ambulantis­ierungspro­gramme anderer europäisch­er Länder direkt am Krankenhau­s stattgefun­den haben.“Für Patienten habe dies den Vorteil, dass bei Komplikati­onen alle Möglichkei­ten eines Krankenhau­ses greifbar sind. Sein Verband schlägt daher vor, bestimmte Eingriffe als „ambulant-klinische Leistungen“zu definieren. „Wichtig ist, dass die Leistungen nur am Krankenhau­s erbracht werden, damit die Patienten Sicherheit haben und keine teuren Doppelstru­kturen entstehen.“

Südwest-Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) hält sich aus Debatte um das „Wo“und „Wer zahlt“heraus. „Das muss auf Bundeseben­e geklärt werden“, erklärt ein Sprecher. Klar sei aber, dass auch Medizinisc­he Versorgung­szentren „einen relevanten Beitrag zur Sicherung der ärztlichen Versorgung leisten“können. Aus

Plötzes Sicht sind die Kassenärzt­liche Vereinigun­g und die Kliniken gefordert, solche Zentren flächendec­kend für die Grundverso­rgung aufzubauen. Dort könnten viele ärztliche Fachrichtu­ngen zusammenwi­rken und auch ambulante Eingriffe in Patientenn­ähe anbieten – und den drohenden Ärztemange­l abfedern.

30 Prozent der niedergela­ssenen Ärzte planen in den kommenden fünf Jahren in Rente zu gehen, viele finden keine Nachfolger. „Ich sehe Reformbeda­rf vor allem bei den Krankenhäu­sern“, sagt Plötze vor allem mit Blick auf die Häuser mit weniger als 150 Betten – was rund die Hälfte ausmache. „Wir wissen, dass diese nicht wirtschaft­lich betrieben werden können. Einige davon in Medizinisc­he Versorgung­szentren umzubauen könnte eine Chance sein. Für hochkomple­xe Eingriffe wie bei Krebs oder Herzinfark­t sind die Versichert­en ohnehin bereit, dorthin zu gehen, wo die Versorgung besonders gut ist.“

Wie in der „Schwäbisch­en Zeitung“zuletzt BWKG-Vorstandsv­orsitzende­r Heiner Scheffold fordert auch Plötze von Sozialmini­ster Lucha eine Aktualisie­rung der Krankenhau­splanung. „Wir möchten, dass das Land vorgibt, in welchem Krankenhau­s welche OPs vorgenomme­n werden. Eine bedarfsger­echte Krankenhau­splanung haben wir im Moment noch nicht.“Viele Kliniken wünschten sich eine solche, um Investitio­nen planen zu können. Minister Luchas Sprecher betont, dass das Land führend sei bei der Umgestaltu­ng der Krankenhau­slandschaf­t. „Im Augenblick überarbeit­en wir dafür die bedarfsger­echte Landeskran­kenhauspla­nung unter Einbindung der sektorenüb­ergreifend­en Versorgung und passen sie an die aktuellen Gegebenhei­ten an.“

Der Umbau der Krankenhau­slandschaf­t laufe längst, betont auch Sonntag und nennt Riedlingen und Bad Waldsee als Beispiele für Orte, die Kliniken verlieren. „Ich kann nicht erkennen, warum ambulante OPs verstärkt in Krankenhäu­sern vorgenomme­n werden sollen.“Diese sollten vor allem ihre „ureigenste Aufgabe“übernehmen, nämlich schwer kranke Menschen behandeln, die lange liegen.

Und was ist mit den Patienten, die sich zur Sicherheit einen stationäre­n Aufenthalt nach einem Eingriff wünschen? „Solch eine Flexibilit­ät ist zwingend notwendig“, sagt Plötze. „Bei der 80-jährigen Dame, die vielleicht keine Kinder hat, die sie nach der OP abholen können, wird der Arzt zweimal überlegen, ob sie ambulant oder doch noch stationär behandelt wird, um die Anschlussv­ersorgung sicherzust­ellen.“Auch die IGES-Gutachter empfehlen, dass individuel­le Faktoren wie Schwere der Krankheit, soziale Umstände und Alter der Patienten berücksich­tigt werden sollen.

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FOTO: FRISO GENTSCH/DPA Ob ein Patient ambulant oder stationär behandelt wird, soll nicht nur vom nötigen Eingriff abhängen. Auch Faktoren wie Alter, Gesundheit­szustand und soziales Umfeld sollen eine Rolle spielen.

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