Die Wiedergeburt eines Festivals
65 000 Musikbegeisterte feiern auf dem Southside, als habe es die Corona-Pandemie nie gegeben
NEUHAUSEN OB ECK - Das erste Open Air nach Corona haben sich viele in der Hochzeit der Pandemie wohl so vorgestellt: Festival-TicketErwerb nur nach Booster-Bescheinigung. Beim Einlass auf das Gelände wird der tagesaktuelle Test verlangt. Und im sogenannten Moshpit, der Nahkampfzone vor der Bühne, achten alle fein säuberlich auf Social Distancing, also Abstand vom Nebenmann, von zwei Meter Abstand mindestens.
Manchem schien die Vorstellung, überhaupt jemals wieder inmitten Tausender Menschen auf einer Wiese zu stehen, zeitweise vollkommen unrealistisch. Und nun im Juni 2022? Kommt es einem zumindest in Neuhausen ob Eck vor, als habe es die Pandemie noch nie gegeben – Corona, war das was? 65 000 Besucher sind zur Wiedergeburt des Southside Festivals gekommen, drängen sich dicht vor der Bühne, Masken und andere Auflagen gibt es nicht. Und selbst auf den obligatorischen selbstgebastelten Schildern mit mehr oder minder witzigen Sprüchen kam Corona nicht vor – vor allem für die jüngeren Besucher scheint das Thema erst einmal durch zu sein.
Die genießen dann auch das lang ersehnte Gefühl von Normalität. Gerade in der Region hat sich das Southside über die Jahre zu einer Art Initiationsritus entwickelt, ein Event, bei dem man dabei sein muss, wie beim Schützen- oder Rutenfest. Für Pauline, Luise und Jenny aus Reutlingen und Tübingen ist es dann auch das erste Mal, dass sie bei dem Festival dabei sind, die vergangenen beiden Jahre war mit Musik im Freien ja nicht viel möglich. Sie sind bereits am Donnerstagmorgen angereist – so wie ein Großteil der Besucher. So früh wie sonst selten seien die Musikfans am Donnerstag nach Neuhausen ob Eck gekommen, berichtet Marcel Ferraro von der Polizei. Neben der Musikvorfreude lag dies wohl auch am strategisch gut gelegenen Feiertag. Bereits ab 9 Uhr morgens erfolgte die Anreise, worauf es für rund vier Stunden massive Verkehrsprobleme gegeben habe. Auch die Zeltplätze füllten sich im Rekordtempo, bis am Abend plötzlich in der Festival-App – das ist heutzutage längst Standard – die Meldung
aufploppte: „Alles voll.“Die Leute hätten in diesem Jahr besonders platzintensive Aufbauten errichtet, berichtet Jonas Rohde vom Veranstalter Scorpio, der auch das parallel stattfindende HurricaneFestival im niedersächsischen Scheeßel betreut; vielleicht habe mancher als Folge von Corona doch etwas mehr auf Abstand geachtet. Am Freitag wurden dann aber noch weitere Flächen ausgewiesen.
Die große Besucheranzahl sorgte dann auch am Donnerstagabend für immensen Andrang vor der Bühne, der an diesem halboffiziellen Festivaltag so gar nicht vorgesehen war. So viele Besucher wollten die Band Großstadtgeflüster sehen, dass der Veranstalter einschreiten musste. Umgehend setzte darauf das Campingplatz-Geflüster ein, dass sich auch über einige lokale Medien verbreitete: Die Band habe gar nicht gespielt, das Konzert sei abgebrochen worden! Tatsächlich wurde nur unterbrochen, bis einige das Gelände verlassen hätten, berichtet Jonas Rohde, dann habe das Programm wie geplant stattgefunden.
Pauline, Luise und Jenny hatten es nicht mehr auf das Gelände mit den Bühnen geschafft und sind zu ihren Zelten zurückgekehrt. Gab es dann da die große Party ? Nein, man sei ins Zeltbett, schließlich sei die Anreise ja anstrengend gewesen. Klingt sehr vernünftig, aber natürlich will man nach der langen Pause möglichst viele Bands sehen, anstatt irgendwo auf der Wiese seinen Rausch auszuschlafen. Für diese Klientel gibt es ja mittlerweile ein eigenes Angebot – das „Festival ohne Bands“in Dürmentingen, bei dem nur gefeiert wird.
Die drei jungen Frauen sind dagegen auch wegen der Musik hier, und so stehen sie am Freitagnachmittag für das erste Konzert vor der roten Bühne. Es spielt die Band Provinz aus Vogt bei Ravensburg, die in den letzten Jahren eine beachtliche Karriere hingelegt hat und mit stürmischem Applaus begrüßt wird.
Und auch wenn die Fans nicht mehr über Corona reden wollen, für die Musiker ist es durchaus ein Thema – viele von ihnen geben der Freude Ausdruck, endlich wieder vor großem und gut gelauntem Publikum aufzutreten. „Das ist mein erstes Festival in Deutschland“, strahlt etwa Toni Watson, besser bekannt als Tones and I. Die Australierin landete 2019 mit „Dance Monkey“einen Riesenhit. Eine ausgedehnte Tour wäre die logische Folge gewesen, aber die Pandemie fror ihre Pläne ein, so wie es vielen Musikern erging.
Jetzt ist sie aber da und sendet fette Bässe über den Gewerbepark von Neuhausen ob Eck. Als sie von den Anfängen ihrer Karriere erzählt, als sie als Straßenmusikerin ihr Geld verdiente und im Auto schlief, kommen ihr die Tränen. Tones and I steht dazu, zeitweise mit psychischen Problemen und Online-Hass gekämpft zu haben, und steht damit für eine neue Generation von Musikern.
Denn die Standard-Besetzung deutscher Festivals lässt sich immer noch wertneutral als mittelalte, meist weiße Männer zusammenfassen, Diversität ist da teils Fehlanzeige. Beim Rock im Park und Rock am Ring standen ausgerechnet beim Kirmestechno-Act Scooter am meisten Frauen auf der Bühne – als Tänzerinnen. Das Southside Festival hat da eine bessere Bilanz und gibt schon seit Längerem Künstlerinnen und Musikern mit einem vielfältigen Hintergrund eine Bühne.
Nura ist dafür ein guter Beleg, bei ihrem Auftritt am Freitag drängen sich vor allem sehr junge Frauen vor der Bühne. Für sie ist die in Kuwait geborene Sängerin mit eritreischen und saudi-arabischen Eltern ein großes Vorbild. Als Geflüchtete nach Deutschland gekommen arbeitete sie mit zahlreichen Bands und feierte als Teil des Hip-Hop-Duos SXTN erste Erfolge. Mittlerweile ist sie auch als Schauspielerin erfolgreich und veröffentlichte ihre Autobiografie „Weißt du, was ich meine? Vom Asylheim in die Charts“. Ein breiteres Publikum kennt sie wohl auch aus der Streamingserie „Die Discounter“.
In ihren Texten thematisiert sie Rassismus genauso wie Frauenpower und reißt bei den Ansagen derbe Sprüche, wie sich viele ihrer männlichen Kollegen wohl nicht mehr trauen würden. Damit trifft Nura aber offenkundig auf ein zeitgemäßes Lebensgefühl. Die Zeiten, in denen von Festivalbühnen ausschließlich reichlich Testosteron verströmt wurde und jüngere Frauen von Mitarbeitern der Band hinter die Bühne gebeten wurden, sind zum Glück schon seit Längerem vorbei. Auch für übergriffiges Verhalten im Publikum ist man mittlerweile sensibilisiert – bei Rock im Park und Rock am Ring gab es sogenannte Achtsamkeits-Beauftragte, beim Southside kann jede und jeder, die sich unsicher, bedroht oder bedrängt fühlen, beim Personal nach „Panama“fragen und wird in Sicherheit gebracht.
So gehen gesellschaftliche Entwicklungen auch an den Festivals nicht spurlos vorbei, für etablierte Bands wie Kings of Leon oder die Killers ist natürlich aber auch weiterhin reichlich Platz. Diversität hat durchaus auch einen kommerziellen Aspekt – wer beim Buchen der Künstler und Musikstile breit aufgestellt ist, erreicht auch ein ebenso buntes Publikum. Und das wird wiederum mit Musik konfrontiert, die es so vielleicht noch nicht kannte.
So sollte das Wiederaufleben der Festivals bei allen Sorgen vor den nächsten Pandemiewellen als ein erfreuliches Zeichen gesehen werden – für die lange darbende Musik- und Veranstaltungsbranche ebenso wie für das oft sehr junge Publikum, das aus der Region, aber auch aus der Schweiz und aus benachbarten Bundesländern angereist ist. Wie gut tut es doch, wenn für drei Tage die wichtigste Frage ist, welche Bands denn als Nächstes auf welcher Bühne spielt und wie wohl das Festivalwetter wird. Das kennt beim Southside traditionell meist nur zwei Extreme: Schlammschlacht oder Hitzeinferno. In diesem Jahr stehen die Zeichen voll auf Sonne – heute und morgen wird also nicht nur die Musik den rund 65 000 Besuchern einheizen.
„Das ist mein erstes Festival in Deutschland.“Sängerin Tones and I
Aktuelle Eindrücke direkt vom Festivalgelände unter schwaebische.de/ southside2022