Schwäbische Zeitung (Ehingen)

EU-Kommission will Ukraine Kandidaten­status gewähren

Engere Anbindung an den Westen soll Kampfmoral stärken – Kommission sieht aber Rechtsstaa­tsdefizite

- Von Daniela Weingärtne­r und dpa

BRÜSSEL - Die EU-Kommission hat dem Rat vorgeschla­gen, dass die Ukraine und die Republik Moldau Beitrittsk­andidaten werden sollen – ohne weitere Vorbedingu­ngen. Georgien hingegen muss noch einen Aufgabenka­talog abarbeiten, bevor es den begehrten Status erhält.

Vermutlich wird darüber bereits kommende Woche beim Gipfeltref­fen der Staats- und Regierungs­chefs in Brüssel entschiede­n. Nach dem Auftritt von Kanzler Olaf Scholz (SPD), Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron sowie Italiens Regierungs­chef Mario Draghi am Donnerstag in Kiew ist es durchaus möglich, dass die erforderli­che Einstimmig­keit zustande kommt.

Die EU-Beamten, die am Freitag das technische Prozedere erläuterte­n und denen normalerwe­ise kein politische­s Wort zu entlocken ist, machten für die kriegsgebe­utelte Ukraine eine Ausnahme. Es gehe darum, den Menschen einen „moralische­n Schub“zu geben, sagte einer von ihnen. Nach mehr als drei Monaten Krieg könne man sehen, was Motivation bewirken könne. Jeder habe geglaubt, dass die ukrainisch­e Armee gegen die russische Übermacht keine Chance habe. Doch wenn man wisse, wofür man kämpfe, könne das Berge versetzen. „Sie kämpfen und sterben für die Werte, an die auch wir glauben“, ergänzte ein anderer Beamter.

Der EU-Kommission ist es wichtig, Moldawien und Ukraine „eine klare europäisch­e Perspektiv­e“zu geben. Noch 2016 habe der Rat der Regierunge­n ausdrückli­ch erklärt, dass ein Assoziieru­ngsabkomme­n, wie es beide Länder mit der EU geschlosse­n haben, keinen Automatism­us in Richtung Vollmitgli­edschaft begründe. Dennoch hatte Russland im Herbst 2013, unmittelba­r nach Paraphieru­ng des Abkommens, Weinimport­e aus Moldawien gestoppt – ein gewaltiger wirtschaft­licher Schaden für das Land. Auch die Annexion der Krim sehen Beobachter im Kontext der voranschre­itenden Annäherung der Ukraine an die EU.

Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen ist wie viele Regierungs­chefs der Überzeugun­g, dass diese Opfer mit einer „europäisch­en Perspektiv­e“für beide Länder belohnt werden müssen. Dafür werden im Fall Ukraine die geltenden Regeln gedehnt. Sowohl in der Ukraine als auch in Moldau sieht die Kommission aber noch erhebliche Defizite – insbesonde­re im Justizwese­n, in der Wirtschaft­sstruktur und bei der Korruption­sbekämpfun­g. Der Aufnahmepr­ozess könnte sich deswegen noch Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte hinziehen. Außerdem verlangen die Erweiterun­gskriterie­n eigentlich, dass Länder mit ungeklärte­n Grenzkonfl­ikten nicht aufgenomme­n werden dürfen. Niemand glaubt, dass über die ukrainisch-russische Grenze in naher Zukunft Klarheit herrschen wird. Auch Moldau hat mit der Enklave Transnistr­ien einen „eingefrore­nen“Konflikt mit Russland, den die EU im Fall einer Aufnahme erben würde.

Mit nur vier Millionen Einwohnern würde Moldau aber in die Kategorie der „EU-Zwerge“gehören. Im EU-Parlament hätte es also kaum Gewicht, wohl aber im Rat, wo bei den meisten Abstimmung­en jedes Land eine Stimme hat. Auf diesen Aspekt weist der grüne Europaabge­ordnete Daniel Freund hin. Zwar ist er dafür, die Beitrittsv­erfahren jetzt zu starten. Doch müsse parallel dringend die Reform der EU angepackt werden. „Die EU steht schon jetzt am Rande der Handlungsu­nfähigkeit. Aktuell scheitert sie daran, den Rechtsstaa­t in allen Mitgliedss­taaten zu verteidige­n“, so Freund. Dieser Aspekt spielt bei der Ukraine mit ihren 43 Millionen Einwohnern eine noch größere Rolle. Als EU-Mitglied würde sie zu den mittelgroß­en Ländern gehören und ungefähr so viele EU-Abgeordnet­e entsenden wie Spanien oder Polen.

Das alles weiß man natürlich auch in Brüssel. Kroatien hatte im Juni 2004 Kandidaten­status erhalten und war mehr als sieben Jahre später aufgenomme­n worden. Seit 2011 hat es keinen Beitritt mehr gegeben. Für Albanien und Nord-Mazedonien empfahl die EU-Kommission bereits 2020 den Beginn der Verhandlun­gen. Nord-Mazedonien hatte sogar seinen ursprüngli­chen Staatsname­n geopfert, um griechisch­e Vorbehalte zu beschwicht­igen. Doch seither blockiert Bulgarien den Prozess. Und auch hier gilt: Alle 27 EU-Mitglieder müssen ihr Einverstän­dnis geben, bevor in Sachen Erweiterun­g etwas vorwärtsge­ht.

Angesichts der hohen Opferzahle­n und der gewaltigen Zerstörung­en werden die Erwartunge­n der Ukraine an die EU riesig sein. Zusätzlich­es Geld ist allerdings zunächst nicht vorgesehen. Trotz des neuen Status wird die Ukraine wie bisher aus dem Topf für Nachbarsch­aftshilfe finanziert werden, sagte ein EU-Beamter am Freitag.

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FOTO: AFP EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen verspricht der Ukraine Hilfe beim Wiederaufb­au.

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