Im Minenfeld des Bösen
Inszenierung von Dostojewskis „Schuld und Sühne“am Stuttgarter Schauspiel mit Höhen und Tiefen
STUTTGART - Der Roman ist schon alleine deshalb epochal, weil Dostojewski gleich in der ersten Sekunde direkt in einen verzweifelt zerrissenen Charakter springt, der widerspiegelt, was die moderne Welt an Widersprüchlichkeit in sich trägt: Rodion Raskolnikow, der Jurastudent aus Sankt Petersburg, tötet skrupellos eine alte Pfandleiherin, obwohl er ansonsten doch ein nachdenklicher Mensch ist und Mitgefühl zeigt.
Man versteht sofort, warum Oliver Frljic, der als Regisseur in Kroatien startete und inzwischen gesamteuropäisch unterwegs ist, sich genau so unvermittelt in Svetlana Geiers wunderbare Übersetzung mit dem Titel „Verbrechen und Strafe“stürzt, wie Dostojewski uns das Innenleben seines Protagonisten zeigt. Auf der großen Bühne des Stuttgarter Schauspiels tritt zu Beginn ganz unvermittelt ein junger Mann auf und beginnt zu sprechen. Wie das so ist mit den Menschen und warum es unter ihnen gewöhnliche und außergewöhnliche gibt. Es ist allerdings nicht Raskolnikow, sondern der Gesetzesvertreter, der Raskolnikow überführen will.
Ein Staatsanwalt wie Porfirij Petrowitsch braucht keine Beweise, schließlich schafft er es, Katz und Maus mit dem Verdächtigen zu spielen und ihn so zu verunsichern, dass er irgendwann ganz einfach gesteht. In der Stuttgarter Inszenierung hat man allerdings den Eindruck, Oliver Frljic habe ihm jegliche Gefährlichkeit ausgetrieben und dafür gesorgt, dass der Stuttgarter Staatsanwalt (Felix Strobel) ein zahnloser Papiertiger ist. Man kann das nachvollziehen, schließlich sorgt der Dreh ins Absurde für Lacher im Publikum und hellt die ansonsten albtraumartige Atmosphäre der Inszenierung auf. Nicht zu übersehen ist aber auch, dass dem Stuttgarter Raskolnikow durch diesen Dreh ein Gegenpart auf Augenhöhe fehlt.
David Müller steht also ziemlich alleine auf der Bühne, wenn er dem so eigenartig zwischen Kraftlosigkeit und Sendungsbewusstsein taumelndem Raskolnikow Kontur verleihen möchte. Müller löst das ganz geschickt und ist eine Art Jüngling ohne Eigenschaften. So einem sieht man nicht an, was in ihm schlummert. Allerdings nur, wenn Dostojewskis mit so viel Widersprüchlichkeit ausgestattete Figuren auch in ihrer Widersprüchlichkeit inszeniert würden. Aber auch in diesem Fall hat man den Eindruck, der Regisseur sei daran nicht interessiert gewesen und habe stattdessen lieber die chronologische Abfolge des DostojewskiThrillers so verändert, dass alles in eine szenische Montage passt.
Aus dem Bühnenhimmel des Stuttgarter Schauspiels schwebt zum Beispiel ein Meer aus Beilen hernieder, auf dass das Stuttgarter Ensemble wie in einem Minenfeld des Bösen wandeln kann. Und Paula Skorubas Sofja, die sich bei Dostojewski für ihre völlig verarmte Familie prostituiert, zieht bei fast jedem Auftritt auf einem Rollwagen einen gekreuzigten Jesus hinter sich her.
Solche wuchtigen Bilder wirken natürlich. Es ist aber auch nicht zu übersehen, dass der Regisseur nicht mehr im Sinn hatte als eine barocke Parabel zur Frage, warum der Mensch so abgrundtief böse sein kann und es dann auch noch schafft, seine Bösartigkeit vor sich selbst zu rechtfertigen. Das ist nicht wenig, aber auch nicht überzeugend. Dass Frljic Analogien zum aktuellen Vernichtungskrieg in der Ukraine vermeidet, ist dagegen verständlich. Schließlich plante das Stuttgarter Staatsschauspiel das Stück schon vor Ausbruch der Pandemie.
Informationen zu den Aufführungsterminen finden Sie unter www.schauspiel-stuttgart.de/ spielplan/a-z/schuld-und-suehne