„Es brennt lichterloh“
Deutsche Industrie spürt Folgen von Abhängigkeiten
BERLIN (dpa) - Die deutsche Industrie mit Millionen Beschäftigten sieht sich zunehmend belastet von den Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der Corona-Pandemie. Vor allem aufgrund massiver Probleme bei Rohstofflieferungen schraubte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) seine Konjunkturprognose für dieses Jahr drastisch nach unten.
Die Industrie erwartet für dieses Jahr nur noch ein Wachstum der Wirtschaftsleistung in Deutschland von rund 1,5 Prozent, wie der BDI am Dienstag in Berlin zum Tag der Industrie mitteilte. Zu Jahresbeginn war er vor Beginn des UkraineKriegs noch von einem Plus um etwa 3,5 Prozent ausgegangen.
Zwar sei der Auftragsbestand bei den Unternehmen auf einem Rekordhoch. Aufgrund von Lieferengpässen sei die Produktion aber zum Teil erheblich beeinträchtigt, so der BDI. Der Verband verwies auch auf Staus bei Containerschiffen, eine Folge von Corona-Lockdowns in China. Der BDI ist mit seiner Prognose pessimistischer als etwa das Münchner Ifo-Institut, das ein Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent prognostiziert hatte. Die Bundesregierung erwartet eine Zunahme von 2,2 Prozent, diese Prognose stammt allerdings von Ende April.
BDI-Präsident Siegfried Russwurm sagte, der Krieg habe die „Achillesferse“des Industrielandes Deutschland aufgedeckt: die Versorgungssicherheit für Energie, Rohstoffe und Basistechnologien. Deutschland ist immer noch abhängig von russischem Gas, aber auch anderen Rohstoffen. Russland hatte seine Gaslieferungen durch die Ostseepipeline Nord Stream gedrosselt.
„Massive Abhängigkeiten als Preis für Kostenvorteile und Skaleneffekte zu akzeptieren, das war aus heutiger Sicht genauso falsch wie der Verzicht unseres Landes auf eigene hinreichende Investitionen in seine Verteidigungsfähigkeit“, sagte Russwurm. „Wir haben uns die Feuerwehr gespart, weil wir das Brandrisiko für vernachlässigbar gehalten haben. Jetzt brennt es lichterloh.“
Es gelte nun, einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden. Das gelte auch für China, machte Russwurm klar. Bei Rohstoffen müsse es eine viel breitere Diversifikation der Bezugsquellen geben – also breitere Lieferketten. Und: Entwicklungs- und Produktionskompetenzen wie der Halbleitertechnologie in Europa müssten ausgebaut werden.
Sind aber die Aussichten wirklich düster? Für eine „konjunkturelle Schwarzmalerei“pünktlich zur startenden Tarifrunde gebe es keinen Grund, sagte Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender der Gewerkschaft IG Metall, der Deutschen Presse-Agentur. „Den Unternehmen geht es gut und sie sehen mit Blick auf Auftragsund Ertragslage positiv in die Zukunft. Im Gegensatz zu ihren Beschäftigten können Firmen gestiegene Preise weitergeben.“Sollte sich ernsthaft etwas an den Realitäten zum Negativen ändern, bleibe die IG Metall eine „verlässliche und verantwortungsvolle“Tarifpartnerin.
„Mit ihrer Einkaufspolitik der letzten Jahre riskierten die Unternehmen fragile Lieferketten für den letzten Cent Ersparnis“, sagte Hofmann. „Das rächt sich und führt jetzt zu einem Nachdenken vieler Konzernchefs: Beim Lieferantennetz müssen auch geopolitische Risiken berücksichtigt werden.“Seit Jahren fordert die IG Metall, dass Zukunftstechnologien in Europa gehalten werden müssen.