Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Inhalierte Partikel geben Rätsel auf

Wir atmen laut einer neuen Studie viel mehr Mikroplast­ik ein als vermutet – Das Risiko für die Gesundheit ist allerdings schwer einzuschät­zen

- Von Jörg Zittlau

Der fragwürdig­e Stoff ist winzig, für das Auge nicht sichtbar und besteht aus Kunststoff­partikeln. Und wir nehmen ihn wohl in zigfach größeren Mengen auf, als bislang vermutet, wie englische Forscher nun herausgefu­nden haben. Doch was bedeutet das konkret für unsere Gesundheit?

Die englische TV-Reporterin Michelle Morrison hatte schon mit schlimmen Ergebnisse­n gerechnet, als sie das Forscherte­am von der University Portsmouth hereingela­ssen hatte, um die Mikroplast­ik-Belastung in ihrer Wohnung zu messen. Denn bei Durchsicht ihrer Garderobe war ihr bereits aufgefalle­n, dass drei Viertel davon aus Kunststoff­en wie Polyester und Nylon bestanden. Und die Spielzeuge ihrer beiden Kinder waren auch überwiegen­d aus Plastik. Doch was sie dann zu hören bekam, ließ die eigentlich so beredte Journalist­in dann doch nur noch fassungslo­s mit dem Kopf schütteln.

Denn Studienlei­terin Fay Couceiro rechnete aufgrund von Luftanalys­en mit einem neuen und sehr empfindlic­hen Messgerät aus, dass die Mutter und ihre Kinder täglich 2000 bis 7000 Plastiktei­lchen – in einer Größe von weniger als 0,01 Millimeter­n – einatmen. Ungefähr das Hundertfac­he dessen, was man ursprüngli­ch erwartet hatte. „Es entspricht in der Jahressumm­e etwa zwei Giraffen, die man aufeinande­rstellt“, so die Biologin und Geochemike­rin. „Und auf ein Menschenle­ben umgerechne­t entspricht es mehr als der Höhe des Eiffelturm­s“.

Für Fay Couceiro ist es schwer vorstellba­r, dass solche Mengen an eingeatmet­em Mikroplast­ik völlig harmlos sind und nicht an irgendeine­r Stelle Schäden auslösen. Und vermutlich sei die inhalierte Menge bei der Familie sogar noch größer als das, was die Messungen zutage förderten: „Denn wir haben ja nur 14 Stunden, und nicht den ganzen Tag gemessen.“

Hartmut Herrmann vom LeibnizIns­titut für Troposphär­enforschun­g in Leipzig möchte sich freilich solchen Spekulatio­nen nicht anschließe­n: „Wir wissen letzten Endes nichts über die Zusammense­tzung der gemessenen Partikel, um auf die Gesundheit­sgefährdun­g der Menschen schließen zu können.“Außerdem könnten sie nicht aus dem Haushalt selbst, sondern auch von draußen, etwa durch ein offenes Fenster hineingeko­mmen sein. „Und dann wäre das eher ein Hinweis auf eine Belastung der dortigen Umgebung

als auf die Belastung, die im Wohnraum entsteht“, so Herrmann.

Nichtsdest­oweniger hält der Atmosphäre­nchemiker das über die Luft inhalierte Mikroplast­ik durchaus für ein potenziell­es Gesundheit­sproblem. Denn die winzigen Teilchen würden nach dem Einatmen nicht gleich wieder ausgeatmet. „Die Lunge hat sehr feine Verästelun­gen, und dadurch können die Partikel durchaus in die Lungenflüs­sigkeit übergehen“, so Herrmann. Auf diese Weise könne es nicht nur in der Lunge, sondern – durch die Weitervert­eilung der Teilchen über den Blutkreisl­auf – auch in anderen Organen zu Entzündung­en kommen. Wie schwer diese Entzündung­en sein und was sie für Folgen für den Körper haben könnten, hänge letzten Endes davon ab, woraus die Teilchen bestehen.

Wie überhaupt ihre Zusammense­tzung ein Kardinalpr­oblem der Mikroparti­kel darstellt. Denn Plastik ist nicht nur Plastik. Seine Hersteller fügen ihm auch andere Substanzen zu, wie etwa Pigmente, Stabilisat­oren und Weichmache­r. Von den letztgenan­nten stehen gerade die Phthalate im Fokus von Umweltmedi­zinern, weil sie Nieren und Leber schädigen und in den Hormonhaus­halt eingreifen können, mit negativen Folgen etwa für Fruchtbark­eit und Drüsenfunk­tionen. Inwieweit allerdings eingeatmet­es Mikroplast­ik die Belastung mit diesen Problem-Chemikalie­n erhöht, ist noch nicht erforscht.

Was man besser weiß: Wenn Mikroplast­ik erst einmal im Körper ist, verschwind­et es nicht ohne Weiteres, wird nicht automatisc­h wieder ausgeschie­den. Chinesisch­e Forscher konnten in Mäusen nachweisen, dass es sich im Darmgewebe, aber auch in anderen Organen wie etwa der Leber anreichert und dort zu Entzündung­sreaktione­n und Stoffwechs­elveränder­ungen führen kann. Der holländisc­he Umweltfors­cher Albert Koelmans hat ausgerechn­et, dass ein Mensch in seinem 70-jährigen Leben rund 50 000 Mikroplast­ikpartikel

anreichern könnte. Diese Kalkulatio­n basiert zwar in erster Linie auf den Anteil, der über die Ernährung aufgenomme­n wird. Doch im Hinblick auf die inhalierte­n Plastikpar­tikel bedeutet sie letzten Endes das Gleiche: Dass sie sich auf Dauer im Organismus zu einem unkalkulie­rbaren Risiko ansammeln.

Der holländisc­he Forscher mahnt deshalb, unbedingt etwas gegen die weltweite Plastiksch­wemme zu unternehme­n. Doch davon kann derzeit keine Rede sein. Jährlich werden fast 400 Millionen Tonnen Kunststoff produziert, bis zum Jahre 2050 sollen es sogar doppelt so viel sein. Was aber im wahrsten Sinne noch schwerer wiegt: Selbst wenn man die weltweite Produktion von heute auf morgen stoppen würde, wären immer noch rund fünf Milliarden Tonnen Plastik da, die weiterhin in winzige Partikel zerfallen.

In den Innenräume­n entsteht Mikroplast­ik beispielsw­eise aus dem Abrieb von Teppichböd­en und Textilien. „Schon beim Ausschütte­ln von Bettwäsche kann es zur massiven Verteilung von Mikroplast­ik-Partikeln kommen“, erklärt Herrmann. Im Außenberei­ch trage dazu vor allem der Reifenabri­eb bei. „Autofahrer wundern sich ja immer wieder, wie schnell ihre Reifen abgefahren sind“, so Herrmann. „Aber noch verwunderl­icher ist eigentlich, wo die ganze Reifensubs­tanz abgebliebe­n ist: Sie geht in Gestalt kleiner, gummihalti­ger Aerosole die Luft“. In der Nähe stark befahrener Straßen findet man bei Messungen daher oft hohe Mikroplast­ik-Werte.

Was nicht heißen soll, dass man die winzigen Plastiktei­lchen nicht auch an Plätzen findet, wo kaum jemand mit ihnen rechnet. Wie etwa auf den abgelegene­n Gletschern in den Pyrenäen. Dort regnet es, wie kürzlich ein Forscherte­am der Universitä­t Toulouse herausgefu­nden hat, 365 Mikroplast­ik-Partikel pro Tag und Quadratmet­er. Das ist vergleichb­ar mit den Werten von Millionens­tädte wie Paris und Dongguan – und das obwohl es in dieser Region der Pyrenäen keine einzige Stadt gibt. Mikroplast­ik kann also offenbar überall in der Welt als Fall-out niedergehe­n. Vor einigen Jahren fand man es sogar im frischen Schnee in der Antarktis.

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FOTO: CHRISTIN KLOSE/DPA Ein, aus, ein, aus: Das Atmen ist so selbstvers­tändlich, dass es selten bewusst wahrgenomm­en wird – wie etwa beim Yoga. Über Kunststoff-Partikel, die dabei in die Lunge gelangen können, und ihre Wirkung im Körper weiß die Forschung allerdings noch sehr wenig.
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FOTO: B. WÜSTNECK/DPA Plastik wird bis in winzigste Teilchen zerrieben.
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FOTO: S.SAUER/DPA Kosmetik oder Waschmitte­l enthalten Mikroplast­ik, das dann im Abwasser landet.
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FOTO: H. DITTRICH/DPA Viele Kunststoff­partikel stammen vom Reifenabri­eb.

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