Schluss mit Corona-Abschottung
Sozialminister Lucha will Heime und Behinderteneinrichtungen keinesfalls mehr isolieren
STUTTGART - Wie bereiten sich Pflegeheime und Einrichtungen der Behindertenhilfe auf mögliche Corona-Wellen in Herbst und Winter vor? In einer digitalen Anhörung des Südwest-Sozialministeriums am Freitagnachmittag haben Fachleute klare Forderungen aufgestellt. Eine davon: Bewohner dürfen keinesfalls mehr so abgeschottet werden wie zu Beginn der Pandemie. Das hat Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) nun versprochen. Er setzt vor allem auf mehr Schutz durch Impfungen.
Wird es in den Einrichtungen nochmal Lockdowns geben?
Nein, sagt Lucha – egal wie sich die Corona-Pandemie im Spätjahr entwickeln wird. „Das Virus wird auch weiter den Weg in die Einrichtungen finden“, sagte Lucha. „Das vollständig zu verhindern, steht nicht in der Macht einer Einrichtung. Die komplette Abschottung, die wir Anfang 2020 gemacht haben, steht nicht mehr zur Diskussion.“Insgesamt sei es seit Beginn der Pandemie zu 2600 Ausbrüchen in Pflegeheimen mit fast 50 000 Infektionen gekommen. 4355 Bewohner seien verstorben.
Warum keine Abschottung mehr? „Wir müssen im Schutzkonzept Schutz- und Freiheitsrechte abwägen“, betonte Lucha. Ein Punkt, den die Wissenschaftler, Vertreter von Gesundheitsämtern, sozialen Diensten und Verbänden betonten. „Viele Pflegebedürftige und ihre Familien sind in eine Destabilisierung gekommen“, sagte Astrid Elsbernd von der Hochschule Esslingen, die auch Mitglied im Expertenrat Pflegewissenschaft und Pandemie des Bundes ist. „Wir müssen bei allen sinnvollen Schutzmaßnahmen überlegen, wo Lebensqualität zwingend zu gewährleisten ist“, sagte sie. So sollten Pflegebedürftige bei der Abwägung einbezogen werden, ob für sie der Gesundheitsschutz oder soziale Teilhabe wichtiger ist, „vor allem vor dem Hintergrund der letzten Lebensphase“. Als „Mindestanforderung“bezeichnete Eckart Hammer vom Landesseniorenrat: „Nicht Infizierte müssen das Heim jederzeit verlassen und Besucher empfangen können.“Die Besuchszeiten müssten länger und Testmöglichkeiten vor Ort besser werden. Und: „Besuchsverbote im Sterbefall sind zu keiner Zeit unter keinen Umständen tragbar.“
Welcher Schutz soll bestehen? Lucha setzt ganz stark auf das Impfen. Kommende Woche sollen mobitere le Impfteams damit beginnen, Heime aufzusuchen und zweite BoosterImpfungen anzubieten. Zustimmung gab es dafür von Joachim Hessler von der Baden-Württembergische Krankenhausgesellschaft. „Das war der Schlüssel für die hohe Impfquote der vergangenen zwei Jahre.“Noch sind die Quoten einer vierten Impfung gering, so Christiane Wagner-Wiening vom Landesgesundheitsamt. Laut RKI waren bis März weniger als zehn Prozent der Beschäftigten und knapp 20 Prozent der Bewohner in Heimen viermal geimpft.
Welche Schutzmaßnahmen gibt es aktuell sonst noch?
Nach der aktuellen Corona-Verordnung des Landes für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen müssen Beschäftigte und Besucher bis 14 Jahre eine medizinische Maske tragen, älBesucher eine FFP2-Maske. Rein kommt nur, wer einen aktuellen negativen PCR- oder Schnelltest hat. Den müssen die Einrichtungen vor Ort anbieten. Zudem gilt seit März für Beschäftigte im Gesundheitssektor eine Impfpflicht. Mit der Umsetzung sind die zuständigen Gesundheitsämter unterschiedlich weit.
Bleiben Test- und Maskenpflicht? Das ist die große Frage, auf die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) noch keine Antwort gegeben hat. Zum 23. September läuft das Bundesinfektionsschutzgesetz aus, auf dessen Grundlage die Länder Test- und Maskenpflichten erlassen können, wie Lucha betonte. Lauterbach selbst rechne mit einer schwierigen Lage im Herbst, wie er am Donnerstag im Bundestag betonte. Deshalb sollte es aus seiner Sicht erforderliche Schutzmaßnahmen geben. Eine Forderung, die auch Länder wie Baden-Württemberg mantraartig wiederholen. Dafür müsste sich Lauterbach aber gegen seinen Kabinettskollegen Marco Buschmann durchsetzen. Der FDP-Justizminister sieht Einschränkungen extrem skeptisch. Geeinigt haben sich die Widersacher bislang auf mehr Kontrolle. Nach einem ersten Gesetzentwurf sollen die Länder in Pflegeeinrichtugen Hygienebeauftragte einsetzen.
Wie wird sich das Infektionsgeschehen weiterentwickeln?
Die von Lauterbach ins Gespräch gebrachte Killervariante, die so ansteckend wie Omikron und so gefährlich wie Delta sein könnte, sei unwahrscheinlich, sagte Wagner-Wiening. „Hierauf gibt es bislang keine Hinweise. Wozu ich kein gutes Bauchgefühl habe, ist die Influenza.“Auf der Südhalbkugel, etwa in Australien, schnellten die Infektionszahlen in die Höhe. „Eine gleichzeitige Infektion mit Influenza und Covid birgt ein hohes Risiko, schwerer zu erkranken“, sagte sie. Impfungen seien hier essenziell, gerade für vulnerable Personen.
Sollen Behinderteneinrichtungen anders behandelt werden als Pflegeheime?
Das forderten zumindest einige Experten. „Nicht alle Menschen mit Behinderung sind der vulnerablen Personengruppe zuzuordnen“, sagte Jochen Ziegler von der Diakonie Württemberg. Die Einschränkungen bisher hätten viele hart getroffen. „Die Aufgabe ist, Teilhabe zu ermöglichen.“Tagesstruktur und gruppenübergreifende Freizeitangebote dürften nicht einfach wieder eingeschränkt oder verboten werden.
Worum sorgen sich die Experten am meisten?
Vor allem die Personalsituation treibt viele um. Die Impfpflicht im Gesundheitssektor führe dazu, dass Personal abwandere, berichteten viele. „Personal fällt aus, auch wegen Frustration und Erschöpfung“, sagte Beatrix Vogt-Wuchter von der Diakonie Baden. „Sie sind zum Teil nach den zwei Jahren am Ende ihrer Kräfte angelangt.“Da die Teilimpfpflicht aber Gesetz ist, werde er nicht daran rütteln, sagte Lucha und betonte: „Ich habe für niemanden verständnis, der in Heil- und Gesundheitsberufen arbeitet und selbst nicht geimpft ist.“Impfen sei der Schlüssel – aktuell weniger gegen eine Ansteckung, wohl aber gegen schwere Krankheitsverläufe und Tod.