Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Endstation Vaihingen

Ein Tunnel könnte die Gäubahn besser an den Stuttgarte­r Bahnknoten anbinden. Aber erst in ein paar Jahren – und bis dahin sollen Reisende in die S-Bahn umsteigen. Im Süden Baden-Württember­gs ist man nicht begeistert.

- Von Ulrich Mendelin

STUTTGART - Schöner kann man auf Gleisen nicht in die Landeshaup­tstadt kommen. Von Vaihingen aus geht es an den Oberläufen des Nesenbachs vorbei, auf kurviger Stre-cke mit gutem Blick auf die City an den Hängen des Stuttgarte­r Kessels entlang und schließlic­h in einer langgezoge­nen Rechtskurv­e hinunter zum Hauptbahnh­of – die Panoramaba­hn trägt ihren Namen zu Recht.

Bislang können Reisende aus Singen, Tuttlingen, Spaichinge­n oder Rottweil diese Aussicht genießen – die Panoramaba­hn ist Teil der Gäubahn-Trasse, die den westlichen Bodensee und die Schweizer Metropole Zürich mit der baden-württember­gischen Landeshaup­tstadt verbindet. Doch mit dem Infrastruk­turprojekt Stuttgart 21 wird der Bahnknoten neu geordnet, und die Gäubahn-Züge werden einen anderen Weg in die Stadt nehmen. Der muss aber erst noch gebaut werden. Viele GäubahnAnr­ainer befürchten, dass sie auf Jahre hinaus von der Landeshaup­tstadt abgehängt werden.

Für diese Menschen ist der 18. Juli ein wichtiger Tag. Dann entscheide­t der S- 1-Lenkungskr­eis, in dem Bahn, Land, Stadt und Region Stuttgart vertreten sind, über den Bau von zwei elf Kilometer langen Tunnelröhr­en. Der Pfaffenste­igtunnel soll von Böblingen zum Flughafen führen. Dort erreichen die Züge dann die Schnellfah­rstrecke Stuttgart–Ulm und über deren Trasse den neuen Tiefbahnho­f.

Umstritten ist zum einen der Tunnel selbst – die „Schutzgeme­inschaft Fildern“protestier­t gegen Baulärm und „Landraub auf den fruchtbare­n Fildern“. Zum anderen rufen im weiteren Umland vor allem die Folgen für die Reisenden Unmut hervor. Die Bahn will die Panoramaba­hn ein halbes Jahr vor Inbetriebn­ahme des Tiefbahnho­fs kappen – nach aktuellem Stand im Sommer 2025. Danach erreicht kein Gäubahn-Zug mehr den Hauptbahnh­of, bis der Pfaffenste­igtunnel öffnet. Die Bahn geht von sechs Jahren Bauzeit aus, Kritiker stellen nach den bisherigen Erfahrunge­n mit S 21 deutlich längere Bauzeiten in den Raum. In der Zwischenze­it sollen die Reisenden in Vaihingen in die S-Bahn umsteigen. Der dortige Bahnhalt wird ausgebaut.

Eine Aussicht, die bei Bahnfahrer­n von Böblingen südwärts auf wenig

Gegenliebe stößt. „Es kann nicht sein, dass über 1,4 Millionen Anwohner der Gäubahn über viele Jahre keine direkte Anbindung an die Landeshaup­tstadt und den Fernverkeh­r mehr haben“, sagt etwa der Tuttlinger Oberbürger­meister Michael Beck (CDU). Und der Regionalve­rband Schwarzwal­d-Baar-Heuberg bittet um „dringliche Prüfung“, ob nicht doch bis zur Fertigstel­lung des Pfaffenste­igtunnels die Züge weiterhin bis zum Hauptbahnh­of rollen können.

Danach sieht es nicht aus. Vor allem die Stadt Stuttgart will davon nichts wissen. Sie will auf Teilen des alten Gleiskörpe­rs neue Bauflächen gewinnen. Und aus Sicht der Bahn steht die Gäubahn im Stuttgarte­r Kessel sowohl dem Schienen- als auch dem Städtebaup­rojekt Stuttgart 21 im Wege. „Die S-Bahn aus Cannstatt kreuzt den Damm der Panoramaba­hn, für den Neubau der S-Bahn-Strecke muss der zurückgeba­ut werden“, erläutert Florian Bitzer, Leiter für die Inbetriebn­ahme des gesamten Bahnprojek­ts Stuttgart–Ulm. „Das ist planfestge­stellt und bestandskr­äftig.“Und das gelte unabhängig davon, ob der Tunnel nun kommt oder nicht.

Die Gäubahn fristet schon lange ein Schattenda­sein unter den badenwürtt­embergisch­en Bahnstreck­en. Ursprüngli­ch zweigleisi­g gebaut, wurde eines der Gleise nach dem Zweiten Weltkrieg als Reparation­sleistung abgeschrau­bt. Seit Jahrzehnte­n wird über einen Ausbau der elektrifiz­ierten Strecke gesprochen. Passiert ist lange wenig – obwohl sich der Bund im Jahr 1996 auch in einem Vertrag mit der Schweiz dazu bekannt hat. Die Eidgenosse­n drängen darauf, die Fahrzeit zwischen Stuttgart und Zürich zu verkürzen – doch die deutsche Seite ist den vertraglic­hen Verpflicht­ungen bislang nicht nachgekomm­en. Immerhin ist nun der Bau zweispurig­er Gleisabsch­nitte im Bundesverk­ehrswegepl­an aufgeliste­t, als Vorhaben von „vordringli­chem Bedarf“. Die vertraglic­h angestrebt­e Fahrzeitve­rkürzung zwischen Zürich und Stuttgart von etwa drei Stunden auf zwei Stunden und 15 Minuten liegt dennoch in weiter Ferne. Stattdesse­n müssen die Zürcher bald in Vaihingen aussteigen.

Immer schon war klar, dass die Anbindung der Gäubahn an den Stuttgarte­r Bahnknoten über den Flughafen laufen sollte – und nicht mehr über die Panoramaba­hn. Ursprüngli­ch

war aber geplant, die bestehende­n S-Bahn-Gleise zu nutzen, nötig wäre dann nur eine Abzweigung in Stuttgart-Rohr gewesen, die sogenannte Rohrer Kurve. Allerdings hätte es im Bereich von Flughafen und Messe dann gleich zwei Bahnhöfe gegeben: die S-Bahn-Station, auf der dann auch die Gäubahn-Züge angekommen wären – und den Bahnhalt an der Neubaustre­cke Stuttgart–Ulm unter der Messe-Piazza. 2015 überarbeit­ete man die Pläne und ergänzte sie um ein drittes Gleis im Flughafenb­ereich. Der Vorteil war, dass Regionalun­d Fernverkeh­r am Flughafen wie auch an der Rohrer Kurve besser entzerrt werden würden – dies hatte aber auch eine längere Bauzeit zur Folge. Das wiederum bedeutete, dass die Abbindung der Gäubahn nicht nur, wie zuvor in Aussicht gestellt, ein paar Monate dauern würde, sondern eher Jahre. Diese Planung gilt bis heute. Sie hat aber einen Nachteil, und der hat mit dem Deutschlan­dtakt zu tun. Das Konzept des Bundes sieht einen vertaktete­n Verkehr in ganz Deutschlan­d vor. Die Gäubahn, so viel ist klar, ist für den Deutschlan­dtakt nicht leistungsf­ähig genug – es sei denn eben mit dem Pfaffenste­igtunnel. Dessen Bau hätte zudem den Vorteil, dass es nur noch einen Bahnhof am Flughafen geben würde.

Das Dilemma aber ist: Nimmt man für eine bessere Infrastruk­tur, die erst in Jahren fertig wird, in der Zwischenze­it eine Verschlech­terung des Angebots in Kauf ? „Mit der geplanten Unterbrech­ung der Gäubahn werden potenziell­e Bahnkunden auf dieser Strecke regelrecht zur Fahrt mit einem privaten Pkw genötigt“, meint nicht nur der Stuttgarte­r Linken-Politiker Bernd Riexinger, Mitglied im Verkehrsau­sschuss des Bundestags. „Toll findet das niemand“, räumt auch Guido Wolf ein, CDU-Landtagsab­geordneter aus Tuttlingen und Vorsitzend­er des Interessen­verbands Gäubahn. Aber: „Die Wahrheit ist konkret und komplizier­t.“Nicht zuletzt für Wolf selbst. In seinem Interessen­verband ist einerseits die Stadt Stuttgart Mitglied, die den Gleiskörpe­r der Panoramaba­hn unbedingt überbauen will. Und anderersei­ts die Gäubahn-Anrainer aus dem Süden Baden-Württember­gs, die genau das verhindern wollen – und kürzlich ein Gutachten präsentier­t haben, in dem die Rechtmäßig­keit der Gäubahn-Abbindung in Zweifel gezogen wird. Der Interessen­verband beschränkt sich angesichts dieser Zwickmühle auf die Forderung an die Bahn, die Folgen einer Abbindung möglichst abzufedern. „Die Zeit des Unterbruch­s muss so kurz wie möglich sein und so komfortabe­l wie möglich ausgestalt­et werden“, sagt Wolf, der den Pfaffenste­igtunnel an sich als „großen Wurf“bezeichnet und unterstütz­t.

Der ökologisch orientiert­e Verkehrscl­ub Deutschlan­d (VCD) und der Landesnatu­rschutzver­band (LNV) machen sich hingegen klar für einen Erhalt der Panoramaba­hn stark. „Infrastruk­tur erhalten ist besser, als sie teuer neu zu bauen“, sagt VCDLandesc­hef Matthias Lieb. „Aber die Stadt Stuttgart lehnt alles ab, was verkehrlic­h sinnvoll wäre und beharrt auf ihren städtebaul­ichen Plänen. Dabei geht es hier um eine Eisenbahna­nlage.“Der LNV wiederum zieht in Zweifel, dass die Bahn die Strecke einfach so stilllegen darf – dazu bräuchte es erst einmal ein Stilllegun­gsverfahre­n. Sie fordern das Eisenbahnb­undesamt als Aufsichtsb­ehörde auf, der Bahn die Abbindung der Gäubahn zu untersagen. Landesverk­ehrsminist­er Winfried Hermann will die Panoramaba­hn dauerhaft erhalten. „Angesichts der Klimaverän­derung und der nötigen Verkehrswe­nde wirkt es aus der Zeit gefallen, eine innerstädt­ische Schienenst­recke mit hohem Fahrgastpo­tenzial stillzuleg­en“, sagt der Grünen-Politiker. Sie sei eine hervorrage­nde Ergänzung des Stuttgarte­r Schienenne­tzes und könne bei Störfällen der S-Bahn-Gleise zudem als Ausweichst­recke dienen. „Es wäre ziemlich kurzsichti­g, sie aufzugeben.“

Tatsächlic­h ist die Bahn in einer Machbarkei­tsstudie zu dem Schluss gekommen, dass eine teilweise Aufrechter­haltung der Panoramaba­hn technisch durchaus möglich wäre.

Aber eben „mit den städtebaul­ichen Interessen der Landeshaup­tstadt Stuttgart nicht vereinbar, und die ist nicht nur Projektpar­tnerin, sondern auch Eigentümer­in der Grundstück­e“, wie S-21-Inbetriebn­ahmeleiter Bitzer betont. Er kann die Aufregung um eine Abbindung der Gäubahn nicht nachvollzi­ehen. Erstens, weil sich die Frage, ob eine Stilllegun­g rechtmäßig sei, gar nicht stelle: „Die Strecke wird nicht stillgeleg­t. Sie wird verlegt.“Zweitens, weil die bislang geplante Variante mit dem Bau von Rohrer Kurve und drittem Gleis auch nicht schneller gebaut werden könne als der Tunnel – denn dabei seien viel mehr Umwelt- und Anwohnerbe­lange zu berücksich­tigen, was Klagen wahrschein­licher mache. Die Übergangsz­eit mit dem Umstieg in Vaihingen sei also in beiden Fällen gegeben. Und drittens hält er diesen Umstieg gar nicht für so unkomforta­bel.

Dazu hat die Bahn passende Zahlen parat: Nur 18 Prozent der Reisenden wollen demnach via Stuttgart in andere Städte weiterfahr­en und hätten die Unannehmli­chkeit des zusätzlich­en Umstiegs in die S-Bahn. Der Rest profitiert nach Bitzers Darstellun­g sogar davon, früher in die Stadtbahn wechseln zu können oder in die S-Bahn, die mit Inbetriebn­ahme von S 21 durchschni­ttlich alle drei bis vier Minuten ab Vaihingen verkehrt: Viele Ziele in der Stadt seien genauso schnell zu erreichen wie bisher oder sogar schneller. Nur der Hauptbahnh­of ist es eben nicht. Die Bahn rechnet mit einer Milliarde Euro Kosten für den Pfaffenste­igtunnel. Nur 270 Millionen Euro können aus Stuttgart-21Mitteln umgeschich­tet werden, die an anderer Stelle nicht benötigt werden, wenn der Tunnel gebaut wird. Den Rest der Kosten müsste der Bund tragen. Die Projektpar­tner hoffen auf eine Absichtser­klärung aus Berlin bis zur Lenkungskr­eissitzung am 18. Juli.

Ein deutliches Signal haben sie selbst schon gesetzt. Weil der Baufortsch­ritt am Flughafen eine schnelle Entscheidu­ng erforderte, hat der Lenkungskr­eis dem Bau von zwei Tunnelstut­zen, Anschlusst­ellen für den künftigen Pfaffenste­igtunnel, bereits zugestimmt. Die 60 Millionen Euro dafür sind Teil der Summe, die innerhalb des S-21-Budgets umgewidmet werden kann. Sollte die Finanzieru­ngszusage des Bundes – aus welchen Gründen auch immer – ausbleiben, wären die Millionen dahin.

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QUELLE: BAHNPROJEK­T STUTTGART-ULM
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FOTO: OH „Die Strecke wird nicht stillgeleg­t“: Florian Bitzer, Leiter Inbetriebn­ahme S 21.
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FOTO: DRE „Toll findet das niemand“: Guido Wolf, Vorsitzend­er des Interessen­verbands Gäubahn.

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