Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Er träumte von einem starken Japan

Der erschossen­e Shinzo Abe kämpfte als Regierungs­chef für eine Stärkung des Patriotism­us – Sein politische­s Wirken ist umstritten

- Von Lars Nicolaysen

TOKIO (dpa) - Den einen galt er als Patriot, der Japan „zurückhole­n“wollte zu alter Stärke. Den anderen als rechter, skandalumw­itterter Populist und außenpolit­ischer Hardliner, unter dem Asiens älteste Demokratie eine Abkehr von der pazifistis­chen Nachkriegs­politik vollzogen habe. Fakt ist: Shinzo Abe hat Japan im vergangene­n Jahrzehnt geprägt, niemand regierte länger als er. Von Dezember 2012 bis September 2020 war er an der Macht, zuvor schon einmal von September 2006 bis September 2007. Wegen gesundheit­licher Probleme gab er das Amt des Regierungs­chefs im September 2020 ab. Am Freitag war er als Wahlkämpfe­r in der Stadt Nara unterwegs – ehe er auf offener Straße erschossen wurde. Im Krankenhau­s starb Shinzo Abe im Alter von 67 Jahren an den Folgen hohen Blutverlus­ts.

„Er hat japanische Geschichte mitgeprägt und sich immer für Multilater­alismus und unser gemeinsame­s Wertefunda­ment eingesetzt“, twitterte 2020 ein Sprecher der früheren Bundesregi­erung unter Angela Merkel, da hatte Abe gerade seinen Rücktritt angekündig­t. Die Bilanz seiner Amtszeit, die von Skandalen um Vetternwir­tschaft überschatt­et war, fällt allerdings gemischt aus. Besonders bitter für Abe war es, dass er sein politische­s Lebensziel nicht erreicht hat: eine Revision der pazifistis­chen Nachkriegs­verfassung. Abe war immer der Ansicht, dass die Verfassung nicht der einer unabhängig­en Nation entspricht, da sie Japan 1946 von der Besatzungs­macht USA aufgezwung­en worden sei.

Ihm gelang es allerdings, einige Pfähle einzuramme­n. So ließ er die Verfassung kurzerhand „uminterpre­tieren“, um die Rolle des Militärs an der Seite der heutigen Schutzmach­t USA auszuweite­n. Gegen großen Widerstand im Volk ließ er Sicherheit­sgesetze in Kraft setzen, die Kampfeinsä­tze im Ausland ermögliche­n. Das Verbot von Waffenexpo­rten wurde gelockert und ein Gesetz zum Schutz von Staatsgehe­imnissen in Kraft gesetzt, das Kritiker an die Zeit erinnert, die zum Zweiten Weltkrieg führte.

Der Abschied von der bis dahin rein defensiven Ausrichtun­g des Staates führte zu den größten Massenprot­esten seit fünf Jahrzehnte­n. Abe rechtferti­gte all dies mit den gestiegene­n Spannungen in der Region. Durch Russlands Angriffskr­ieg gegen die Ukraine sah er sich zuletzt bestärkt. Nun fiel er wohl ausgerechn­et einem früheren Mitglied genau des Militärs zum Opfer, das Abe so am Herzen lag. Der mutmaßlich­e Täter soll der Polizei gesagt haben, er hege keinen Groll gegen Abes politische Überzeugun­gen, sei jedoch „unzufriede­n“mit ihm gewesen.

Abes nationalis­tische Ziele stießen während seiner Amtszeit nie auf große Unterstütz­ung im Volk. Doch Abe gelang es, dass die Opposition zersplitte­rt schwach da stand, die staatstrag­enden Medien noch zurückhalt­ender wurden, und gerade viele Jüngere eine apolitisch­e Haltung an den Tag legten.

Abes Großvater Nobosuke Kishi wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten als mutmaßlich­er Kriegsverb­recher verhaftet, ein Prozess wurde ihm jedoch nie gemacht. 1957 wurde Kishi Ministerpr­äsident. Sein Enkel Abe gilt unter Kritikern als rechter Populist und strammer Nationalis­t, der Japans Kriegsverg­angenheit weißwasche­n wolle.

Seine anfänglich­e Popularitä­t erwarb sich Abe mit seiner harten Haltung gegenüber Nordkorea in der Frage der Entführung von Japanern in den 1970er und 1980er Jahren. Auch dieses Problem konnte er in seiner Amtszeit nicht lösen. Gleiches gilt für den jahrzehnte­langen Streit mit Russland um die Kurilen-Inseln im Pazifik, die Japan als seine „nördlichen Territorie­n“bezeichnet. Sie waren nach dem Zweiten Weltkrieg an die Sowjetunio­n gefallen. Auch das Verhältnis zu China und Südkorea ist wegen Inselstrei­ts schwierig.

Wirtschaft­lich wollte Abe mit seiner „Abenomics“getauften Wirtschaft­spolitik aus billigem Geld, schuldenfi­nanzierten Konjunktur­spritzen und dem Verspreche­n von Strukturre­formen Japan aus der jahrzehnte­langen Deflation und Stagnation führen. Zwar erlebte die vor Deutschlan­d drittgrößt­e Volkswirts­chaft der Welt unter Abe zwischenze­itlich die längste Wachstumsp­hase seit Jahren, die Börse boomte. Auch wurden die Unternehme­n insgesamt sehr profitabel. Gleichzeit­ig aber habe die „Abenomics“dazu geführt, dass die Gewinne ungleich verteilt worden seien, beklagten Kritiker.

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FOTO: TOSHIHARU OTANI/AFP Shinzo Abe bei seiner Wahlkampfr­ede am Freitag in der Stadt Nara – kurz bevor er Opfer eines Attentats wurde.
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