Wohnen wie in einem Baum
Berlin wird Deutschlands höchstes Hochhaus aus Holz bekommen – Der alte, neu entdeckte Baustoff soll mehr Nachhaltigkeit schaffen
Müsste man nur einmal schnippen, um einen Entwurf zu realisieren, stünde in Berlin jetzt das höchste Holzwohnhaus der Welt: 98 Meter, 29 Etagen, 150 Wohnungen, 18 000 Quadratmeter Nutzfläche. In Kreuzberg, zwischen Anhalter Bahnhof und Tempodrom, nicht weit vom Potsdamer Platz, wo vor 25 Jahren an einem wiedervereinten Deutschland gebaut wurde, mit Stahl und Beton, um zu zeigen, dass Berlin auch Metropole sein kann.
Beim geplanten Holzhochhaus aber wird es neben der Tatsache, dass sich Investitionen lohnen müssen, um etwas ganz anderes gehen: zu zeigen, dass man auch nachhaltig groß denken kann. Und dass nicht auf dem Holzweg ist, wer mit Holz baut. Bis das Leuchtturmprojekt namens WoHo steht, entwickelt vom Berliner Unternehmen UTB, wird es natürlich noch dauern: Erst mal ist das Bebauungsplanverfahren eingeleitet, der Architekturwettbewerb entschieden, Gutachten erstellt. Baureif könnte man 2023 sein, fertig dann 2026, wenn alles gut läuft. Allerdings sind da die Unwägbarkeiten bei Preisen und Verfügbarkeit von Baumaterial noch nicht einkalkuliert. Optimistisch betrachtet, wird es mit ein bisschen Glück das höchste Holzhaus dieses Landes sein.
Denn zurzeit wachsen weltweit die Pläne in den Himmel, wenn es ums Bauen mit dem organischen Material geht. Auch in den USA, Kanada, Schweden, Österreich und der Schweiz liegen Entwürfe auf den Architektentischen, die an die hundert Meter heranreichen. Manche Bauherren sprechen sogar über 200 und 350 Meter. Das aktuell höchste Fertiggestellte ist mit 85,4 Metern das Mjøstårnet in Norwegen, knapp dahinter das HoHo in Wien.
Ein Videoanruf in Oslo bei Mad Arkitekter, die den Wettbewerb ums WoHo gewonnen haben: Jonny Klokk, einer der Teilhaber, und Martina Ellsel, die Projektleiterin, sitzen im Konferenzraum, hinter ihnen eine Holzwand, Norwegische Fichte. „Als Norweger sind wir es gewohnt, viel
Holz zu nutzen“, sagt Klokk. Und schränkt ein: „Aber oft im Interior oder an der Fassade.“Wirklich in Holz zu konstruieren, also mit Tragstruktur und Decken aus Holz, sei dagegen bei höheren Gebäuden auch in seiner Heimat noch selten, wenn auch im Wandel. „Wir wollen Holz in vielen Projekten viel massiver nutzen“, so Klokk, „wegen der Nachhaltigkeit.“Auch für Martina Ellsel, eine deutsche Architektin, die seit 19 Jahren in Norwegen lebt, ist das keine Frage: „Wir müssen einfach alle anders denken, den CO2-Ausstoß drastisch reduzieren, vor allem auch beim Bauen.“
Im Berliner WoHo wird jedenfalls massig Holz zu finden sein, so viel ist sicher. Ein bisschen so, als würde man in einem Baum wohnen. Allein das Untergeschoss und der Erschließungskern mit Aufzügen und Treppenhäusern verbleiben klassisch in Stahlbeton. Der Rest besteht aus Holz, und zwar aus einem tragenden Skelett aus Pfeilern, Stützen und Trägern, dazu Wand- und Deckenelemente. Verwendet wird massives Brettschichtholz sowie Brettsperrholz, worauf man in der Regel vertraut, wenn Holzgebäude in die Höhe wachsen sollen. Dabei wird das Material nicht versteckt. Das WoHo ist für alle sichtbar ein Holzhochhaus: Die Passanten merken’s an der mit Holz beplankten Fassade, die Bewohner an holzverkleideten Wänden und Böden. Nur an den Decken braucht es Gips, denn sonst würde es mit dem Brandschutz kompliziert, bedauert das Team in Oslo. „Bei unserem Konzept ist es wichtig, so viel Holz wie möglich zu zeigen“, sagt Jonny Klokk, selbst Architekt. „Wir wollen dieses warme Gefühl, das allen gut tut. Außerdem ist es Teil unserer Natur, eine Verbindung zu Holz zu haben. Es ist ein Grundinstinkt.“
Generell ist das große Ziel unserer Zeit, die Erderwärmung in den Griff zu bekommen. Doch wie kann ein Holzhochhaus da helfen? „Der Elefant im Klimaraum ist das Bauen und Betreiben von Gebäuden“, sagte der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber im April dieses Jahres bei einer Pressekonferenz, auf der er die von ihm mitgegründete Initiative „Bauhaus der Erde“vorstellte, die eine Bauwende anstoßen soll.
Wenn man den gesamten Lebenszyklus unserer Gebäude betrachtet, tragen die zu 37 Prozent zum weltweiten CO2-Ausstoß bei. Ein ganz schöner Batzen. Was der Branche schon einmal helfen würde, um klimafreundlicher zu werden: mit organischen Materialien bauen. „Dadurch könnte man das Siedlungswesen in eine Senke verwandeln“, hofft Schellnhuber, dem in diesem Jahr für seine Arbeit sogar das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde. Es ginge also beispielsweise darum, in Holzhäusern Kohlendioxid zu versenken, statt es bei der Produktion von Beton auszustoßen. Warum sollte sich der Bausektor nicht wie schon die Energieträger erneuerbaren Rohstoffen zuwenden? Weg von Sand, Kies, Eisenerzen und Erdöl, hin zu Flachs, Hanf, Wolle und eben Holz?
Weithin sichtbar könnten Hochhäuser in Holzhybridbauweise Hingucker werden für eine solche Wende, könnten sich stark machen für die Umwelt. In Wien wurde bereits im Sommer 2019 ein solches Leuchtturmprojekt eröffnet. Es trägt den Namen HoHo, von „HolzHochhaus“. Mit 84 Metern und 24 Etagen ist es das zweithöchste Holzgebäude der Welt. Die Betreiber schreiben auf der Website, man sei „auf dem richtigen Holzweg“. Gegenüber einem Bau aus Stahlbeton habe der Hybridbau 2800 Tonnen weniger Treibhausgase in die Atmosphäre entlassen als sein
● mögliches Pendant aus Stahlbeton. Dafür könnte man 20 Millionen Kilometer mit dem Auto fahren. Übrigens würde es nur eine Stunde und 17 Minuten dauern, bis das ganze heimische Holz, das im HoHo steckt, wieder nachgewachsen wäre. Schätzungen gibt es auch schon fürs Berliner WoHo. Ein Professor der Technischen Hochschule Mittelhessen, Fachbereich Bauwesen, hat für den Bauherrn schon mal überschlagen, dass bis zu 5000 Tonnen CO2 im Herstellungsprozess eingespart werden, weil es nicht in Stahlbeton errichtet wird. Dazu kommt zusätzlich das CO das im Holz eingelagert ist, solange es nicht verbrennt. Und das wird dem WoHo ja hoffentlich nicht passieren.
Beispiele für innovatives Bauen mit Holz gibt es aber auch in der Provinz: In Kempten im Allgäu sind im Herbst 2021 die ersten Bewohner in das höchste Holzhaus im Allgäu eingezogen. Die Kemptener Wohnbaugesellschaft Sozialbau hat es im Stadtteil Thingers verwirklicht. Der Bau besteht aus über 350 Fichten, hat sieben Stockwerke und ist eines der ersten Vollholzhäuser in dieser Größe in ganz Bayern. Sechs Millionen Euro hat es gekostet. Innovativ ist bei dem Projekt nicht nur die Vollholzbauweise: Energie und Wärme kommen von der Photovolatik-Anlage auf dem Dach, geheizt wird mit Nahwärme und eine Ladestation für elektrisch betriebene Fahrzeuge ist ebenfalls vorhanden.
Bereits vor zehn Jahren, 2012, ist in Dornbirn ein Hochhaus aus Holz gebaut worden – nicht verwunderlich, da Vorarlberg seit Langem eine Vorreiterrolle in Sachen Holzarchitektur einnimmt. 27 Meter hoch ragt Österreichs erstes, achtstöckiges Holzhochhaus in den Himmel. Der der LifeCycle Tower im Gewerbepark „Rhomberg’s Fabrik“weist aufgrund der Hybridbauweise nicht nur hohe Energieeffizienz und eine verbesserte CO2-Bilanz auf, der Turm erfüllt außerdem Passivhausstandard. Die Außenfassade des LifeCycle Tower besteht aus Recyclingmaterial.
Zwar hat Holz als Baumaterial eine lange Tradition. Doch so richtig weit vom Boden weg gewagt hat man sich früher höchstens bei ein paar Kirchen oder Pagoden. Eignet sich das Material überhaupt, was Stabilität und Belastbarkeit angeht? Auch die Behörden hatten vielerorts lange Vorbehalte, was das mehrgeschossige Bauen mit Holz betrifft. Doch tatsächlich kann es ebenso standsicher sein, wenn die tragende Konstruktion in entsprechender Stärke ausgeführt wird. Dauerhaft belastbar ist es ohnehin. Den Beweis hat es in der
Bauhistorie längst angetreten. Allerdings ist es von Haus aus nachgiebiger. Doch die meisten Holzhochhäuser verlassen sich sowieso weiterhin auf einen Kern aus Stahlbeton, der für die nötige Steifigkeit sorgt. Es geht also vor allem um die entsprechende Konstruktion, die Holzbautechnik und die Wahl der Holzbaustoffe. Gerade das in dieser Liga häufig verwendete Brettsperr- und Brettschichtholz aus miteinander verleimten Massivholzlagen hat besonders gute Eigenschaften, etwa arbeitet es kaum. Und die Brandgefahr? 120 Minuten muss das Tragwerk eines Hochhauses von der Größe eines WoHo Feuer standhalten – und zwar egal aus welchem Material es besteht. Fakt ist, dass immer mehr Holzhochhäuser genehmigt werden, und mit ihnen die jeweiligen Brandschutzkonzepte.
Nur eine schmale Sackgasse trennt Thomas Bestgens Büro der UTB in Berlin-Tempelhof von der Columbiahalle, einer der meistbespielten Konzertlocations der Stadt – wenn nicht gerade Corona ist. Trotz der urbanen Lage fühlt man sich hier ein bisschen wie in einem Vorort. „Berlin ist ausgereizt, wenn es ums Bauen in die Breite geht. Berlin ächzt überall“, meint Thomas Bestgen. Das Modell des WoHo, das heute hier steht, nimmt sich da fast klein aus, zumindest was die Grundfläche angeht. „Wenn wir alles zubauen, haben wir Probleme, die wir aus Molochen kennen“, sagt der 56 Jahre alte Immobilieninvestor, der gern mit geschlossenem Mund lächelt und den selbstbewussten Blick hinter einer Brille versteckt. Deshalb stellt sich für ihn jetzt die Frage: „Bekommt man Qualitäten, die man in der Ebene hat, auch in die Höhe?“
Dabei sieht er das WoHo nicht so sehr als Hochhaus, sondern als vertikales Quartier. Was er damit meint: Es soll nicht nur für die Nutzer funktionieren, sondern auch Angebote an die Nachbarn machen. „Wenn man in so eine Kulisse eingreift, muss es einen Mehrwert für die Stadt geben“, sagt Bestgen. Im Falle des WoHo heißt das, die Nutzung soll gemischt sein: „Nicht nur Gewerbe, nicht nur Bürofläche, nicht nur Glaspalast.“Im Erdgeschoss Dienstleistungen wie Kiezkantine, Kindergarten, DIYWerkstatt und kleine Läden.
Um Bewohner des Turms zu werden, muss man nicht mal viel verdienen, denn ein Drittel der fürs Wohnen genutzten Fläche wird mietpreisgebunden sein. Dass sich das Bauprojekt sozial öffnet, ist auch physisch am Entwurf abzulesen. Die Architekten haben vier Baukörper entworfen, die mit- und umeinander gelagert sind und sich der Höhe der umliegenden Bebauung anpassen. Der eigentliche Turm steht weit hinten. „Ein Hochhaus ist normalerweise ein Symbol, will vor allem dominant sein. Bei uns integriert sich das Gebäude“, sagt Jonny Klokk in Oslo. Er nennt das WoHo daher auch „ein freundliches Hochhaus“.