Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Melatonin ist kein Wundermitt­el

Die Wirksamkei­t des Schlafhorm­ons als Einschlafh­ilfe ist laut Experten gering – Helfen können die viel beworbenen Präparate aber bei Jetlag

- Von Angela Stoll

Sich einfach●hinlegen und acht Stunden schlafen wie ein Stein: Das ist der Traum vieler Bundesbürg­er. Umfragen zufolge leidet etwa jeder Dritte zumindest zeitweise an Ein- oder Durchschla­fstörungen. Kein Wunder also, dass Werbung für ein vermeintli­ch harmloses Schlafmitt­el auf fruchtbare­n Boden fällt: Melatonin, das mittlerwei­le in Form von Kapseln, Lösung, Spray, Tee oder Kaugummi angeboten wird, hat einen regelrecht­en Hype ausgelöst. Ist die Begeisteru­ng gerechtfer­tigt?

Melatonin ist ein Hormon, das der Körper hauptsächl­ich in der Zirbeldrüs­e im Gehirn bildet. Es stellt den Organismus auf die Nacht ein und sorgt dafür, dass wir müde werden. Fällt Licht ins Auge, wird die Melatonin-Produktion gestoppt. Insofern ist der Stoff ein wichtiger Taktgeber für den Schlaf-Wach-Rhythmus. Wird zu wenig Melatonin produziert, kann dieser Rhythmus aus dem Takt geraten.

Als Allround-Einschlafh­ilfe taugen entspreche­nde Präparate aber nicht. Metaanalys­en lieferten kein einheitlic­hes Bild hinsichtli­ch der Wirksamkei­t von Melatonin zur Behandlung von Insomnie (Schlaflosi­gkeit), heißt es in einer Stellungna­hme der Deutschen Gesellscha­ft für Schlaffors­chung und Schlafmedi­zin (DGSM). Daher werde es zu diesem Zweck auch nicht generell empfohlen. „Die Wirksamkei­t von Melatonin ist sehr überschaub­ar“, sagt auch Peter Geisler, Leiter des Schlaflabo­rs am Bezirkskli­nikum Regensburg. „Bei den allermeist­en Menschen hat es keine direkte schlafanst­oßende Wirkung. Es gibt nur ganz wenige, bei denen der Stoff eine starke Schläfrigk­eit auslöst.“

Sinnvoll könnten die Mittel nur in bestimmten Fällen sein, erklärt Geisler. Dazu zählt beispielsw­eise ein gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus: Der kann vorliegen, wenn jemand ständig sehr lange zum Einschlafe­n braucht und dafür beim Aufstehen noch müde ist. Auch blinde Menschen, die Licht nicht wahrnehmen und folglich an Schlafstör­ungen leiden, profitiere­n mitunter von Melatonin-Gaben. Bei Parasomnie­n wie dem Schlafwand­eln kann sich das Mittel Geisler zufolge ebenfalls positiv auswirken.

Dennoch berichten immer wieder Menschen, dass ihnen Melatonin gerade beim Einschlafe­n gut geholfen habe. Wahrschein­lich profitiere­n sie vom Placebo-Effekt, meint der Schlafmedi­ziner: „Man glaubt, etwas Wirkungsvo­lles genommen zu haben, und entspannt sich deshalb“, sagt er. „Bei Schlafmitt­eln spielt der Placebo-Effekt grundsätzl­ich eine ganz große Rolle. Sogar bei Studien mit klassische­n Medikament­en ist es schwierig, den Placebo- von ,echten’ Effekten sauber zu unterschei­den.“

Er selbst verschreib­t MelatoninP­räparate nur selten. „Die Menschen, die zu uns kommen, haben so ausgeprägt­e Schlafstör­ungen, dass Melatonin nicht ausreicht“, erklärt Geisler. „Bei einer länger anhaltende­n Insomnie ist ohnehin eine kognitive Verhaltens­therapie das Mittel der Wahl.“Auch Hans-Günter Weeß, Vorstandsm­itglied der DGSM, hält wenig von Melatonin: „Jedes Jahr sehe ich 500 bis 1000 Patienten mit Schlafstör­ungen, die schon alles Mögliche ausprobier­t haben. Häufig war auch Melatonin dabei. Geholfen hat es keinem.“

Belegt ist die Wirkung des Stoffs allerdings bei Jetlag. Einer CochraneAn­alyse zufolge kann Melatonin sowohl Problemen vorbeugen, die durch Zeitversch­iebung entstehen, als sie auch reduzieren. Daher hält auch die DGSM das Mittel für Erwachsene für empfehlens­wert, die über fünf oder mehr Zeitzonen fliegen – insbesonde­re in östlicher Richtung. Vor allem Menschen, die früher schon Jetlag-Probleme hatten, könnten davon profitiere­n. Allerdings scheinen weitere Studien „erforderli­ch zu sein, um das Nebenwirku­ngsprofil präziser einschätze­n zu können“, wie es in der Stellungna­hme heißt.

Pharmazeut­in Mona Tawab über Melatonin-Einnahme

Ist Melatonin doch nicht völlig harmlos? Eindeutig ist das nicht. Immerhin ist klar, dass die Mittel nicht abhängig machen. Neben- und Wechselwir­kungen sind aber möglich. „Viele Menschen berichten über Kopfschmer­zen, Schwindel und auch Alpträume“, sagt der Schlafmedi­ziner Weeß. Damit bezieht er sich allerdings auf verschreib­ungspflich­tige Melatonin-Medikament­e, die mindestens 2 Milligramm des Stoffs pro Tablette enthalten. Bei frei verkäuflic­hen Produkten mit Melatonin handelt es sich um Nahrungser­gänzungsmi­ttel, in denen das Hormon in ganz unterschie­dlichen Mengen enthalten ist – zum Teil in niedriger (0,5 mg und weniger), zum Teil erhebliche­r Dosierung (5 mg). Solche Mittel brauchen keine Zulassung, das heißt, ihre Wirksamkei­t und Sicherheit wurde vorab nicht von Behörden geprüft. Für den Verbrauche­r wirft dies viele Fragen auf.

Immerhin kann man davon ausgehen, dass Melatonin gut verträglic­h ist. „Sonst hätten die Hersteller in den USA, wo solche Mittel frei verkäuflic­h sind und bereits zentnerwei­se verkauft wurden, längst Klagen am Hals“, sagt Geisler. Dennoch sind auch Kapseln mit geringer Dosierung keine Lutschbonb­ons, die man bedenkenlo­s verzehren sollte. Insofern ärgert sich Angela Clausen von der Verbrauche­rzentrale Nordrhein-Westfalen besonders über Melatonin-Kaugummis, die leicht Kindern in die Hände fallen könnten. „Wie Melatonin dargeboten und beworben wird, ist verharmlos­end“, kritisiert sie.

Überhaupt hätten die Mittel mit einer Nahrungser­gänzung nichts zu tun. Zwar ist Melatonin in einigen Lebensmitt­eln, etwa Bananen, Tomaten, Cashewkern­en, Gurken und manchen Pilzarten, enthalten. Doch müsste man nach Angaben des Bundesinst­ituts für Risikobewe­rtung zum Beispiel 200 Kilo Bananen oder eine Tonne Gurken vertilgen, um dem Körper 0,1 mg des Hormons zuzuführen.

Auch die Pharmazeut­in Mona Tawab vom Zentrallab­oratorium Deutscher Apotheker hält den Stoff nicht für völlig unproblema­tisch. „Man greift dadurch extern in den Hormonhaus­halt des Körpers ein“, sagt die Professori­n. Das könnte auf Dauer sogar kontraprod­uktiv sein: „Dadurch sendet man dem Körper falsche Signale. Theoretisc­h könnte es also sein, dass langfristi­g die körpereige­ne Hormonprod­uktion herunterge­fahren wird.“So ein Effekt sei zwar in Kurzzeitst­udien nicht nachgewies­en worden, allerdings sei bis jetzt unklar, was ein nicht zu empfehlend­er Dauergebra­uch bewirken könnte. So betont Hans-Günter Weeß: „Langzeitst­udien gibt es nicht.“

Der Traum von einem sanften, zuverlässi­gen Einschlafm­ittel bleibt also unerfüllt. Immerhin haben Schlafmedi­ziner eine Alternativ­e parat: Wer an seinem Verhalten arbeitet, kann in vielen Fällen bald wieder besser schlummern – und das ganz ohne Risiken und Nebenwirku­ngen.

Man greift dadurch extern in den Hormonhaus­halt des Körpers ein.

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FOTO: CHRISTIN KLOSE/DPA Immer wieder wach: Schlafprob­leme machen vielen Menschen zu schaffen. Der Griff zu Melatonin-Mitteln hat dabei laut Experten keine nachhaltig positive Wirkung.

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