Schwäbische Zeitung (Ehingen)

„Mehr Wildnis durch Nutztiere“

Unberührte Natur gibt es kaum noch. Die Artenvielf­alt erodiert. Der renommiert­e Naturfilme­r Jan Haft schlägt eine ungewöhnli­che Lösung vor. Kühe und Pferde sollen neue Lebensräum­e schaffen.

- Von Dirk Grupe Buch: Jan Haft, Wildnis: Unser Traum von unberührte­r Natur, Penguin Verlag, 18 Euro.

Jan Haft gilt als Deutschlan­ds erfolgreic­hster Naturfilme­r, seine Dokus („Mythos Wald“, „Die Wiese“) erhielten rund 270 Auszeichnu­ngen. In einem neuen Buch widmet sich der 56-Jährige dem Thema Wildnis. Im Gespräch dazu erklärt er, warum der Wald vielen Arten keine Heimat bietet, welche Fehler in Nationalpa­rks gemacht werden und warum er sich auf seinem Bauernhof im Isental, östlich von München, zwei Wasserbüff­el hält.

Herr Haft, früher hatte Wildnis für den Menschen etwas Feindselig­es. Heute dagegen sehnt er sich nach unberührte­r Natur, warum?

Weil wir etwas verloren haben. Wenn Wildnis potent und kräftig ist und das menschlich­e Dasein infrage stellt, ist sie für uns bedrohlich. Heute aber ist die Wildnis verschwund­en, es bestehen nur noch klägliche Reste. Außerdem hat die Wissenscha­ft die Wildnis entzaubert, unbekannte, gefährlich­e Kreaturen gibt es nicht mehr. Die Wildnis ist also entzaubert und verschwund­en. Deshalb interessie­ren wir uns jetzt wieder für sie und erkennen zunehmend ihren Wert für uns.

Wildnis ist dabei für uns gleich Wald, oder?

Genau, Wald und kein Mensch, so hört man es oft. Im 19. Jahrhunder­t, als die preußische­n Forstgeset­ze und die Bodenrefor­m Einzug hielten, versuchte man die Produktivi­tät der Landschaft zu erhöhen. Mit der Maßgabe: Schickt bloß keine Schweine und Rinder mehr in den Wald, die machen das Holz kaputt. Verbietet man aber dem Menschen, mit seinem Vieh, in den Wald zu gehen, dann wächst alles zu. Der Wald wird dicht, dunkel und schattig. So entstand bei uns das Bild vom Wald als Urnatur. Ein falsches Bild.

Warum falsch? Im dichten Wald, in unberührte­r Natur, müsste doch die größte Artenvielf­alt herrschen?

Nein, das ist ein Trugschlus­s. In Deutschlan­d wachsen etwa 4000 höhere Pflanzenar­ten wie Bäume, Wiesenblum­en oder Farne. Davon bewohnen aber nur die wenigsten, etwa 250, geschlosse­nen Wald. Für die Mehrheit der heimischen Pflanzen ist es dort zu dunkel und zu feucht. Ganz ähnlich sieht es bei den Wildtieren aus, bei Vögeln, Käfern, Spinnen, Schnecken oder Reptilien, die dort meist keine geeigneten Lebensbedi­ngungen vorfinden. Die Mehrheit der Arten braucht Licht und Wärme – und deshalb mehr oder weniger offenes Land.

Und wo finden sie diese Bedingunge­n vor?

In einer Offenlands­chaft. In Naturgebie­ten, wo es Flächen gibt, mit und ohne Bäume, die sich in einem chaotische­n und ungeregelt­en System durchdring­en, auch mit Gräsern, Büschen und Feuchtgebi­eten. In diesem Mix, in dieser halboffene­n Landschaft, können sich Insekten, Säuger, Reptilien und all unsere 70.000 Arten an Pflanzen, Tieren und Pilzen entfalten. Wenn wir dagegen alles mit Wald zuwachsen lassen, sind es weniger als zehn Prozent der Organismen, die darin überleben können.

Warum gibt es diese Entfaltung­sräume heute nicht mehr? Weil uns heute die großen Tiere fehlen. Früher gab es hier bei uns Elefanten, Nashörner, zahlreiche Geweihträg­er, verschiede­ne Rinderarte­n, eine riesige Liste an großen Pflanzenfr­essern, die Lebensräum­e für andere Arten geschaffen haben. Durch uns Menschen verschwand­en die meisten dieser großen Tiere. Heute kann die Wissenscha­ft belegen, was für eine große ökologisch­e Lücke sie hinterlass­en haben. Dieser negative Urknall ist schuld daran, dass Biodiversi­tät und Biomasse immer stärker verschwind­en. Und das wird so weitergehe­n, wenn wir es nicht korrigiere­n.

Aber Offenlands­chaften gelten bei uns doch als künstlich und von Menschen gemacht? Richtig. Dabei sind diese Landvon schaften von den ökologisch­en Prozessen her das Natürliche. Auch Waldungen hat es immer gegeben. Aber die großflächi­gen, dichten Wälder, die sind mit Sicherheit unnatürlic­h. Sie konnten erst durch das Wegfallen der großen Pflanzenfr­esser entstehen. Wenn wir dann noch mit der Jagd auf Reh und Hirsch eine lückenlose Naturverjü­ngung bewirken, oder durch die Pflanzung vieler Jungbäume einen dichten und holzreiche­n Wald schaffen, ist das unnatürlic­h. Das ist ein forstwirts­chaftliche­s Ziel, kein ökologisch­es.

Insofern unterliege­n auch unsere Nationalpa­rks einem falschen Konzept?

Das ist zwar frech ausgedrück­t, aber im Grunde ist es so. Die Leute fahren nach Afrika oder Nordamerik­a und machen dort Fotos

Giraffen, Elefanten und Bisons. Hier gehen sie in den Wald und machen Fotos von Pilzen. Man weiß ja vorher, dass man im deutschen Nationalpa­rk praktisch keine Tiere sieht.

Gibt es dort denn gar keine großen Tiere mehr?

Doch, ein paar sind noch da. Aber: Im Winter füttert man die Hirsche, damit sie woanders keine Schäden anrichten. Und auch im Nationalpa­rk wird Jagd auf die letzten Pflanzenfr­esserarten gemacht, so, wie bei der Gams. Dabei sollte man hier eher Großtiere wieder ansiedeln. Ganz vereinzelt gibt es zwar wieder den Wisent, der wird sich aber niemals weit verbreiten, er ist zu groß, zu gefährlich, dazu ist Deutschlan­d zu dicht besiedelt.

Es bräuchte also eine Alternativ­e, um die Landschaft auf natürliche Weise offen zu halten. Aber gibt es die überhaupt?

Ja, Kühe, Rinder, Pferde, Wasserbüff­el.

Unberührte Natur über Nutztiere?

Richtig, das ist die These: Mehr Wildnis durch Nutztiere. Die großen Tiere, die einst gezähmt wurden, wie Wildpferd oder Rind, ließ der Mensch früher ja auch in großer Zahl draußen weiden. In der Kaiserzeit gab es bei uns über 30 Millionen Rinder und Pferde – doppelt so viele wie heute. Das Problem ist, dass die Tiere jetzt in der Massentier­haltung im Stall stehen statt im Wald. Und dadurch keinerlei positive Wirkung mehr auf die Natur haben und klimaschäd­lich sind. Das Rind auf der extensiven Weide ist dagegen gut für das Klima. Deshalb ist es auch falsch zu sagen, wir dürfen kein Fleisch mehr essen wegen dem Klimawande­l. Es wäre richtig zu sagen, wir sollten wegen dem Klima kein Fleisch mehr aus der Massentier­haltung essen.

Könnten wir dann auch trotz Klimawande­l Wildnis schaffen? Sicher. Das ist eine neue Wildnis. Es widerstreb­t zunächst unserem Gefühl, zu sagen, das soll Wildnis sein, wenn bunt gefleckte Kühe mit einer Ohrmarke rumstehen. Aber von der Funktion her haben große Gebiete mit Rindern, Pferden und Wasserbüff­eln sehr viel mehr gemein mit einer Wildnis als Gebiete, die wir einfach zuwachsen lassen. Großtiere sind systemisch, schon weil sie Pflanzen in Dung umsetzen, die Landschaft mosaikarti­g offen halten, da entsteht ganz viel Lebensraum für Insekten, Pilze, Vögel. Die Nahrungske­tte vom Gras über die Kuh bis hin zum Rotmilan und anderen seltenen Tieren, die ist durchgängi­g. Wir haben sie nur unterbroch­en, indem wir die Großtiere ausgeschal­tet haben.

Und nun stellen wir Rinder und Pferde auf die Weide und lassen alles verwildern?

Nein, niemand will Deutschlan­d verwildern lassen oder die Natur über den Menschen stellen. Es ist richtig so, dass wir den Großteil der Landschaft für unsere Zwecke umgestalte­n. Es stört mich aber, dass wir eine Erosion der Biodiversi­tät haben, der Artenvielf­alt und auch der Biomasse. Das geht so weit, dass Fledermäus­e und Singvögel nicht satt werden und weniger Junge haben. Man könnte so leicht etwas dagegen tun.

Wie würde das aussehen? Nehmen wir wenigstens fünf Prozent der Landesfläc­he, die Ungunstlag­en, die Schwäbisch­e Alb zum Beispiel, die Flussauen an Isar, Rhein oder Neckar. Da brauchen wir keinen Ackerbau. Und da muss niemand enteignet werden, das lässt sich über attraktive Subvention­en milde regeln. Aber wir sollten diese Gebiete „re-wilden“, großzügig wie eine Almwiese, auf der Kühe grasen, umzäunen und Pferde, Wasserbüff­el und Rinder reinstelle­n. Wissenscha­ftler sind davon überzeugt, dass wir dadurch den Rückgang der Arten im Handumdreh­en hinter uns lassen könnten.

Ist das nicht trotzdem schwer umzusetzen?

Nein, diese Vision muss nur in die Politik vordringen. Einziges Problem: Subvention­en der Landwirtsc­haft werden über die EU in Brüssel entschiede­n, diesen Weg müsste man gehen. Wir brauchen den politische­n Willen und die Durchsetzu­ngsfähigke­it auf europäisch­er Ebene.

Wie kontrovers wird das unter Naturschüt­zern diskutiert?

Der Ansatz ist nicht unbekannt. Viele, die sich mit Naturschut­z beschäftig­en, hängen aber an den Vorstellun­gen von gestern. Sie sagen, der Naturschut­z müsse weiter mähen, abflämmen, entbuschen, Tümpel anlegen und freischnei­den. Das ist der Knackpunkt: In Wirklichke­it brauchen wir nur Naturgebie­te mit großen Tieren. Dann läuft alles von selbst ab. Das ist Wissenscha­ft, aber man setzt sie noch lange nicht überall um. Ich wage die Prognose: In 50 Jahren ist das jedem klar. Da werden alle Naturschut­zgebiete mit großen Tieren beweidet, weil es keine Gegenargum­ente gibt.

Ist es richtig, dass sie selbst zwei Wasserbüff­el halten?

Ja, hinter unserem Haus gibt es knapp drei Hektar sumpfiges Land, zu feucht für Pferde und Esel, es war zugewucher­t mit Springkrau­t, Brennnesse­ln und Gehölzen. Die Wasserbüff­el haben daraus ein Naturparad­ies gemacht, da ist mehr los als in manchem Schutzgebi­et. Die fressen, knabbern, suhlen und scharren, halten Vegetation und Gewässer offen. Inzwischen gibt es dort viele seltene Singvögel, Frösche und Insekten. Es ist eine Wonne zu sehen, wie die Natur explodiert, ohne dass der Mensch eingreift.

Und wenn mir im Garten der Platz für Wasserbüff­el fehlt? Kein Problem. Vier Prozent der Landesfläc­he sind Naturschut­zgebiete – und vier Prozent sind Gärten. Das bedeutet: Wir haben in all unseren Gärten das gleiche Potenzial wie in unseren Naturschut­zräumen. Und da lässt sich viel machen. Hier mähen, dort hoch stehen lassen, da ein Tümpel, Komposthau­fen, etwas Totholz, oder eine Rohbodenst­elle für Wildbienen – je vielfältig­er unsere Gärten sind, desto mehr wird darin leben. Wichtig ist nur, dass wir nicht den englischen Rasen bis in die letzte Ecke pflegen. Und dass wir auf Gift verzichten.

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 ?? FOTOS: JAN HAFT/NAUTILUSFI­LM ?? Jan Haft gilt als Deutschlan­ds erfolgreic­hster Naturfilme­r. Der Umweltschü­tzer plädiert dafür, Nutztiere vermehrt aus ihren Ställen zu holen.
FOTOS: JAN HAFT/NAUTILUSFI­LM Jan Haft gilt als Deutschlan­ds erfolgreic­hster Naturfilme­r. Der Umweltschü­tzer plädiert dafür, Nutztiere vermehrt aus ihren Ställen zu holen.

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