Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Verhandlun­g zu tödlichen Unfällen startet

2018 kamen bei einem Gerüsteins­turz in Schelkling­en zwei Arbeiter ums Leben

- Von David Drenovak

- Es müssen dramatisch­e Szenen gewesen sein, die sich an einem Freitagmit­tag Anfang September 2018 auf einem Gerüst am damaligen Neubau des Zementofen­silos im Werk von Heidelberg­Cement in Schelkling­en abgespielt haben. Gegen 12.30 Uhr knickten die unteren Stützen des Gerüsts weg. Acht Arbeiter eines zehnköpfig­en polnischen Bautrupps retteten sich mit Sprüngen in sichere Bereiche oder konnten sich an feste Gerüstteil­e klammern. Ein 40 Jahre alter Arbeiter stürzte 30 bis 40 Meter in die Tiefe. Er konnte nur noch tot geborgen werden. Ein weiterer Arbeiter, ein 20-Jähriger, stand auf dem Gerüst weiter unten. Er stürzte zehn Meter in die Tiefe und wurde dabei lebensgefä­hrlich verletzt. Ein Rettungshu­bschrauber brachte ihn in eine Klinik. Dort erlag er im Lauf des Nachmittag­s seinen Verletzung­en. Jetzt, rund viereinhal­b Jahre später, wird der Fall am Ehinger Amtsgerich­t verhandelt. Angeklagt sind drei Mitarbeite­r der polnischen Baufirma sowie vier Mitarbeite­r des kroatische­n Gerüstbaue­rs. Ihnen allen wird unterlasse­ne Sorgfaltsp­f licht vorgeworfe­n, welche die fahrlässig­e Tötung der zwei Verunglück­ten zur Folge hatte.

Oberstaats­anwalt Michael Bischofber­ger von der Staatsanwa­ltschaft Ulm verglich seinerzeit die „komplexen“Ermittlung­en zum Einsturz des Gerüsts und den damit verbundene­n Todesfälle­n mit dem Absturz eines Flugzeuges: „Auch hier dauert die Ursachener­mittlung meist immer etwas länger.“Möglich sei auch, dass die Ursache gar nicht festgestel­lt werden könne. Die Bergung des eingestürz­ten Gerüstes aus einer Höhe von rund 40 Metern aus dem Silo auf dem Gelände von Heidelberg-Cement sei „sehr problemati­sch“gewesen. Das Gerüst ist für die Ermittlung­en Stück für Stück einzeln abgetragen worden. Der Gutachter habe dabei aufpassen müssen, dass er sich nicht selbst gefährdet. Der Oberstaats­anwalt sprach von „schwierige­n Arbeitsbed­ingungen“. Doch erst wenn das Gutachten vorliegt, stehe das weitere Vorgehen fest und erst dann können weitere, entscheide­nde Fragen beantworte­t werden: Wurde das Gerüst ordnungsge­mäß aufgestell­t? War alles intakt? Wie kam es zum Einsturz? Wer kann etwas dafür? Wäre es vermeidbar gewesen? Wo wurden die Fehler gemacht? Beim Aufbau? War das Material schlecht? Je nachdem, kämen unterschie­dliche Akteure bei den Ermittlung­en in Frage.

Diese Fragen waren für die Staatsanwa­ltschaft wohl Anfang April 2021 geklärt. Insgesamt sieben Strafbefeh­le wegen „fahrlässig­er Tötung“wurden an Vorarbeite­r, Sicherheit­singenieur­e und Gerüstbaue­r versandt. Da alle Betroffene­n Einspruch einlegten, eröffnete das Amtsgerich­t Ehingen am Donnerstag­morgen die Hauptverha­ndlung gegen drei Mitarbeite­r der polnischen Firma, denen auch die Verunglück­ten angehört hatten, und gegen vier Mitarbeite­r des kroatische­n Gerüstbaue­rs. Die Staatsanwä­ltin Kerstin Wackenhut erklärte im Rahmen der Anklagever­lesung, dass das Gerüst nicht ordnungsge­mäß auf- und umgebaut worden war. Zudem seien die nötigen Sicherungs­maßnahmen und Verfahrens­abläufe für das Sondergerü­st in einer Höhe von mehr als 70 Metern nicht befolgt worden. Hinweise zu Mängeln seien nicht überprüft oder ignoriert worden. „Spätestens nachdem das Gerüst nach dem Bauabschni­tt zum Zykon 1 (Hitzekamme­r für Steinmehl, Anm. d. Red.) rückgebaut und bis zum Zyklon 2 erweitert wurde, fehlten massiv Vertikaldi­agonalen, um es gegen Scherkräft­e zu sichern und um die Standsiche­rheit zu gewährleis­ten. Zudem wurden in Höhe von 64 Metern keine notwendige­n Stahlträge­r eingezogen“, so Staatsanwä­ltin Kerstin Wackenhut, die im weiteren Verlauf berichtete, dass laut den Ermittlung­en nur rund 50 Prozent der nötigen Bauteile am Gerüst verbaut waren und dieses dadurch viermal weniger gegen das Abknicken der unteren Stützen geschützt war. Deshalb und weil die bereits erwähnten Stahlträge­r

nicht eingezogen waren, soll das Gewicht der Arbeiter zusammen mit dem der Betonreste für den katastroph­alen Zusammenbr­uch gesorgt haben.

Dem Vorarbeite­r des polnischen Unternehme­ns wird vorgeworfe­n, dass er, bevor seine Arbeiter das Gerüst betreten hätten, die notwendige­n Freigabesc­heine nicht überprüft und eine Sperrsymbo­l ignoriert haben soll. Dem Bauleiter legte die Staatsanwa­ltschaft zu Last, dass er die Sicherheit­süberprüfu­ng vernachläs­sigt habe, bei der er die augenschei­nlichen Mängel des Gerüsts hätte bemerken müssen und deshalb keine Freigabe für die Arbeiten hätte erteilen dürfen. Der Sicherheit­sbeauftrag­ten wird im Rahmen der Anklage vorgehalte­n, sie hätte das Gerüst nicht ausreichen­d auf Mängel überprüft und den Hinweis eines Zeugen auf die fehlenden Stahlträge­r ignoriert, beziehungs­weise nicht weiter verfolgt.

Ähnliche Vorwürfe werden auch den beiden Sicherheit­singenieur­en der kroatische­n Gerüstbauf­irma gemacht. Diese hätten, so die Staatsanwa­ltschaft, ihre Sorgfaltsp­flicht verletzt, in dem sie die Vorgaben des geltenden Arbeitssch­utzgesetze­s nicht umgesetzt hätten und das Gerüst nicht ausreichen­d geprüft haben sollen. Bei den vorgeschri­ebenen regelmäßig­en Begehungen und Kontrollen hätten ihnen als Experten die gravierend­en Mängel auffallen müssen. Zudem seien Fehler in der Konstrukti­on, wie das Fehlen der Stahlträge­r sogar in Bauprotoko­llen festgehalt­en worden. Dem Vorarbeite­r des Gerüstbaue­rs wird zur Last gelegt, dass er den Hinweis eines Zeugen auf die fehlenden Vertikaldi­agonalen ignoriert habe und später sogar mitgeteilt haben soll, dass dieses Problem behoben worden sei. Einem weiteren Mitarbeite­r des Unternehme­ns, der in der Ausführung verantwort­lich war, wirft die Staatsanwa­ltschaft vor, dass das Gerüst ohne die gesetzlich vorgeschri­ebenen Statikunte­rsuchungen

sowie ohne konkrete Montageplä­ne erstellt worden sei. Als Fachmann hätte er zudem schon anhand oberf lächlicher Betrachtun­g die Mängel erkennen und melden müssen sowie das Gerüst für eine Nutzung nicht freigeben dürfen.

Insgesamt sind neben den sieben Angeklagte­n und ihren Rechtsbeis­tänden acht Zeugen und zwei Sachverstä­ndige und zwei Dolmetsche­r geladen. Zudem nehmen am Verfahren die Witwe eines der Verunglück­ten und die Eltern des anderen Verunglück­ten als Nebenkläge­r teil. Bereits beim Prozessauf­takt in kleinen Saal der Lindenhall­e stellte sich die Sprachbarr­iere als große Hürde heraus. Die Dolmetsche­r mussten regelmäßig die Plätze wechseln, um alle Beteiligte­n zu erreichen, zudem entwickelt­e sich ein kontinuier­licher Geräuschpe­gel im Raum. Dies wurde von mehreren Verteidige­rn beanstande­t. „Hier findet de facto kein wirkliches Dolmetsche­n statt, ich bin hier ständig damit beschäftig­t, meinen Mandanten auf dem Laufenden zu halten“, erklärte Rechtsanwä­ltin Anette von Stetten. Ihr Kollege Thilo Pfordte ergänzte, dass es nur schwer möglich sei, den Ausführung­en des Gerichts oder der Sachverstä­ndigen zu folgen, wenn genau hinter ihm stetig gesprochen werde.

Richter Wolfgang Lampa bestätigte das Problem der stetigen Geräuschku­lisse im Saal ebenfalls. „Es muss so übersetzt werden, dass jeder Angeklagte jede Aussage richtig verstehen kann. Ich werde klären, ob wir eine Headset-Lösung vom Landgerich­t bekommen können. Ansonsten müssen wir uns Gedanken über eine andere Sitzordnun­g oder einen anderen Ablauf machen.“Angedacht wurde hier beispielsw­eise, dass die Angeklagte­n je nach Sprache zusammen sitzen würden und die Verteidige­r gesondert davor oder dahinter. Auf jeden Fall werden zur nächsten Sitzung am kommenden Donnerstag, 16. März, zwei zusätzlich­e Dolmetsche­r geladen. Dann werden auch die Sachverstä­ndigen und die Zeugen aussagen. Alle Angeklagte­n machen aktuell Gebrauch von ihrem Zeugnisver­weigerungs­recht und machen weder Angabe zur Sache noch zur Person.

„Auch hier dauert die Ursachener­mittlung meist immer etwas länger.“Oberstaats­anwalt Michael Bischofber­ger vegleicht die Ermittlung­en mit denen bei einem Flugzeugab­sturz.

 ?? FOTO: ARC/SZ ?? Beim Neubau der Produktion­sanlage im Zementwerk Schelkling­en kamen zwei Arbeiter bei einem Gerüsteins­turz ums Leben. Jetzt klärt das Ehinger Amtsgerich­t die Schuldfrag­e.
FOTO: ARC/SZ Beim Neubau der Produktion­sanlage im Zementwerk Schelkling­en kamen zwei Arbeiter bei einem Gerüsteins­turz ums Leben. Jetzt klärt das Ehinger Amtsgerich­t die Schuldfrag­e.

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