Verhandlung zu tödlichen Unfällen startet
2018 kamen bei einem Gerüsteinsturz in Schelklingen zwei Arbeiter ums Leben
- Es müssen dramatische Szenen gewesen sein, die sich an einem Freitagmittag Anfang September 2018 auf einem Gerüst am damaligen Neubau des Zementofensilos im Werk von HeidelbergCement in Schelklingen abgespielt haben. Gegen 12.30 Uhr knickten die unteren Stützen des Gerüsts weg. Acht Arbeiter eines zehnköpfigen polnischen Bautrupps retteten sich mit Sprüngen in sichere Bereiche oder konnten sich an feste Gerüstteile klammern. Ein 40 Jahre alter Arbeiter stürzte 30 bis 40 Meter in die Tiefe. Er konnte nur noch tot geborgen werden. Ein weiterer Arbeiter, ein 20-Jähriger, stand auf dem Gerüst weiter unten. Er stürzte zehn Meter in die Tiefe und wurde dabei lebensgefährlich verletzt. Ein Rettungshubschrauber brachte ihn in eine Klinik. Dort erlag er im Lauf des Nachmittags seinen Verletzungen. Jetzt, rund viereinhalb Jahre später, wird der Fall am Ehinger Amtsgericht verhandelt. Angeklagt sind drei Mitarbeiter der polnischen Baufirma sowie vier Mitarbeiter des kroatischen Gerüstbauers. Ihnen allen wird unterlassene Sorgfaltspf licht vorgeworfen, welche die fahrlässige Tötung der zwei Verunglückten zur Folge hatte.
Oberstaatsanwalt Michael Bischofberger von der Staatsanwaltschaft Ulm verglich seinerzeit die „komplexen“Ermittlungen zum Einsturz des Gerüsts und den damit verbundenen Todesfällen mit dem Absturz eines Flugzeuges: „Auch hier dauert die Ursachenermittlung meist immer etwas länger.“Möglich sei auch, dass die Ursache gar nicht festgestellt werden könne. Die Bergung des eingestürzten Gerüstes aus einer Höhe von rund 40 Metern aus dem Silo auf dem Gelände von Heidelberg-Cement sei „sehr problematisch“gewesen. Das Gerüst ist für die Ermittlungen Stück für Stück einzeln abgetragen worden. Der Gutachter habe dabei aufpassen müssen, dass er sich nicht selbst gefährdet. Der Oberstaatsanwalt sprach von „schwierigen Arbeitsbedingungen“. Doch erst wenn das Gutachten vorliegt, stehe das weitere Vorgehen fest und erst dann können weitere, entscheidende Fragen beantwortet werden: Wurde das Gerüst ordnungsgemäß aufgestellt? War alles intakt? Wie kam es zum Einsturz? Wer kann etwas dafür? Wäre es vermeidbar gewesen? Wo wurden die Fehler gemacht? Beim Aufbau? War das Material schlecht? Je nachdem, kämen unterschiedliche Akteure bei den Ermittlungen in Frage.
Diese Fragen waren für die Staatsanwaltschaft wohl Anfang April 2021 geklärt. Insgesamt sieben Strafbefehle wegen „fahrlässiger Tötung“wurden an Vorarbeiter, Sicherheitsingenieure und Gerüstbauer versandt. Da alle Betroffenen Einspruch einlegten, eröffnete das Amtsgericht Ehingen am Donnerstagmorgen die Hauptverhandlung gegen drei Mitarbeiter der polnischen Firma, denen auch die Verunglückten angehört hatten, und gegen vier Mitarbeiter des kroatischen Gerüstbauers. Die Staatsanwältin Kerstin Wackenhut erklärte im Rahmen der Anklageverlesung, dass das Gerüst nicht ordnungsgemäß auf- und umgebaut worden war. Zudem seien die nötigen Sicherungsmaßnahmen und Verfahrensabläufe für das Sondergerüst in einer Höhe von mehr als 70 Metern nicht befolgt worden. Hinweise zu Mängeln seien nicht überprüft oder ignoriert worden. „Spätestens nachdem das Gerüst nach dem Bauabschnitt zum Zykon 1 (Hitzekammer für Steinmehl, Anm. d. Red.) rückgebaut und bis zum Zyklon 2 erweitert wurde, fehlten massiv Vertikaldiagonalen, um es gegen Scherkräfte zu sichern und um die Standsicherheit zu gewährleisten. Zudem wurden in Höhe von 64 Metern keine notwendigen Stahlträger eingezogen“, so Staatsanwältin Kerstin Wackenhut, die im weiteren Verlauf berichtete, dass laut den Ermittlungen nur rund 50 Prozent der nötigen Bauteile am Gerüst verbaut waren und dieses dadurch viermal weniger gegen das Abknicken der unteren Stützen geschützt war. Deshalb und weil die bereits erwähnten Stahlträger
nicht eingezogen waren, soll das Gewicht der Arbeiter zusammen mit dem der Betonreste für den katastrophalen Zusammenbruch gesorgt haben.
Dem Vorarbeiter des polnischen Unternehmens wird vorgeworfen, dass er, bevor seine Arbeiter das Gerüst betreten hätten, die notwendigen Freigabescheine nicht überprüft und eine Sperrsymbol ignoriert haben soll. Dem Bauleiter legte die Staatsanwaltschaft zu Last, dass er die Sicherheitsüberprüfung vernachlässigt habe, bei der er die augenscheinlichen Mängel des Gerüsts hätte bemerken müssen und deshalb keine Freigabe für die Arbeiten hätte erteilen dürfen. Der Sicherheitsbeauftragten wird im Rahmen der Anklage vorgehalten, sie hätte das Gerüst nicht ausreichend auf Mängel überprüft und den Hinweis eines Zeugen auf die fehlenden Stahlträger ignoriert, beziehungsweise nicht weiter verfolgt.
Ähnliche Vorwürfe werden auch den beiden Sicherheitsingenieuren der kroatischen Gerüstbaufirma gemacht. Diese hätten, so die Staatsanwaltschaft, ihre Sorgfaltspflicht verletzt, in dem sie die Vorgaben des geltenden Arbeitsschutzgesetzes nicht umgesetzt hätten und das Gerüst nicht ausreichend geprüft haben sollen. Bei den vorgeschriebenen regelmäßigen Begehungen und Kontrollen hätten ihnen als Experten die gravierenden Mängel auffallen müssen. Zudem seien Fehler in der Konstruktion, wie das Fehlen der Stahlträger sogar in Bauprotokollen festgehalten worden. Dem Vorarbeiter des Gerüstbauers wird zur Last gelegt, dass er den Hinweis eines Zeugen auf die fehlenden Vertikaldiagonalen ignoriert habe und später sogar mitgeteilt haben soll, dass dieses Problem behoben worden sei. Einem weiteren Mitarbeiter des Unternehmens, der in der Ausführung verantwortlich war, wirft die Staatsanwaltschaft vor, dass das Gerüst ohne die gesetzlich vorgeschriebenen Statikuntersuchungen
sowie ohne konkrete Montagepläne erstellt worden sei. Als Fachmann hätte er zudem schon anhand oberf lächlicher Betrachtung die Mängel erkennen und melden müssen sowie das Gerüst für eine Nutzung nicht freigeben dürfen.
Insgesamt sind neben den sieben Angeklagten und ihren Rechtsbeiständen acht Zeugen und zwei Sachverständige und zwei Dolmetscher geladen. Zudem nehmen am Verfahren die Witwe eines der Verunglückten und die Eltern des anderen Verunglückten als Nebenkläger teil. Bereits beim Prozessauftakt in kleinen Saal der Lindenhalle stellte sich die Sprachbarriere als große Hürde heraus. Die Dolmetscher mussten regelmäßig die Plätze wechseln, um alle Beteiligten zu erreichen, zudem entwickelte sich ein kontinuierlicher Geräuschpegel im Raum. Dies wurde von mehreren Verteidigern beanstandet. „Hier findet de facto kein wirkliches Dolmetschen statt, ich bin hier ständig damit beschäftigt, meinen Mandanten auf dem Laufenden zu halten“, erklärte Rechtsanwältin Anette von Stetten. Ihr Kollege Thilo Pfordte ergänzte, dass es nur schwer möglich sei, den Ausführungen des Gerichts oder der Sachverständigen zu folgen, wenn genau hinter ihm stetig gesprochen werde.
Richter Wolfgang Lampa bestätigte das Problem der stetigen Geräuschkulisse im Saal ebenfalls. „Es muss so übersetzt werden, dass jeder Angeklagte jede Aussage richtig verstehen kann. Ich werde klären, ob wir eine Headset-Lösung vom Landgericht bekommen können. Ansonsten müssen wir uns Gedanken über eine andere Sitzordnung oder einen anderen Ablauf machen.“Angedacht wurde hier beispielsweise, dass die Angeklagten je nach Sprache zusammen sitzen würden und die Verteidiger gesondert davor oder dahinter. Auf jeden Fall werden zur nächsten Sitzung am kommenden Donnerstag, 16. März, zwei zusätzliche Dolmetscher geladen. Dann werden auch die Sachverständigen und die Zeugen aussagen. Alle Angeklagten machen aktuell Gebrauch von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht und machen weder Angabe zur Sache noch zur Person.
„Auch hier dauert die Ursachenermittlung meist immer etwas länger.“Oberstaatsanwalt Michael Bischofberger vegleicht die Ermittlungen mit denen bei einem Flugzeugabsturz.