Malen mit dem Messer
Georgia Russell stellt in der Städtischen Galerie Tuttlingen Skalpell-Bilder aus
- „Ausschneiden ist eine Art von Meinungsfreiheit. Für mich ist das Zeichnen, aber ich zeichne mit dem Skalpell“, sagt Georgia Russell. Und mit diesem Arbeitsgerät passt sie bestens in die Galerie der Stadt Tuttlingen, die ihre heutige Bedeutung zu einem Gutteil dem Skalpell verdankt, mit dem die hier dominierende Medizintechnik im 19. Jahrhundert ihren Anfang genommen hat.
„Ajouré“, durchbrochen, ist der Titel der Retrospektive auf Werke der vergangenen zehn Jahre, mit dem Untertitel „Lichtschnitte“. „Schnittmuster“könnte man auch sagen, denn in der Tat entstehen die Bilder der bei Paris lebenden Schottin nicht nur aus Leinwand und Farbe, sondern aus feinsten Schnitten, die die Künstlerin mit dem Skalpell ausführt. Eine höchst aufwendige Technik, zudem mit dem Risiko behaftet, dass ein Bild verloren ist, wenn ein einziger Schnitt misslingt. Da braucht es eine sichere Hand.
Wenn Russells Versuche gelingen, entstehen faszinierende Arbeiten, durch Verbindung zweier oder dreier Schichten oft dreidimensional. Allein der Transport
der höchst fragilen, zarten Bilder dürfte Kunstspeditionen vor eine schwierige Aufgabe stellen. In Tuttlingen sind überwiegend Bilder, teils großformatig, zu sehen. Dazu kommen einige Objekte, bei denen Georgia Russell Bücher zerschnitten und zu figural anmutenden Skulpturen geformt hat. Darunter ist auch eine aus
dem 19. Jahrhundert stammende schottische Bibel, die nun regelrecht zerzaust aussieht und einer stilisierten Statue gleicht. Dabei wehrt sich die Künstlerin gegen mögliche Vorwürfe, Bücher zu zerstören, was allerhand fragwürdige Assoziationen ergeben könnte: Sie sieht darin einen kreativen, expressiven Transformationsprozess
eines Mediums – bezeichnenderweise heißt eine Figur denn auch „Totem“und erinnert ein wenig an Götterstatuen aus Afrika oder Ozeanien.
Bilder mit Schnitten – das lässt an Lucio Fontana denken, der monochrome Leinwände mit Messerstichen regelrecht und demonstrativ verletzt hat. Georgia Russell
geht da deutlich harmonischer vor. In ihrem Atelier nördlich von Paris arbeitet sie mit freundlichen Farben und Formen, die sie in akribischer Kleinarbeit in jeweils langen Arbeitsprozessen zu ihren filigranen Bildern gestaltet. Diese haben einen mobilen Betrachter verdient: Die zwei oder drei Schichten verändern sich, changieren, verschieben sich optisch, wenn man an ihnen vorbeigeht. Meist sind es klassische Leinwände als Malgrund; bei einigen Beispielen nutzt sie große Fotos des nächtlichen Sternenhimmels.
Mit Werken, die sie mit dem Skalpell geschaffen hat, ist sie nun in die „Welthauptstadt der Medizintechnik“gekommen – welcher Ort wäre besser dafür geeignet? Und noch einen geeigneten Ortsbezug mag man als Betrachter herstellen: Ein paar Exponate lassen einen Wellengang erkennen – und nur wenige Meter neben der Städtischen Galerie f ließt die Donau gemächlich vorbei.