Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Schwindend­e Hoffnung

Verzweiflu­ng bei der Opposition in der Türkei – Amtsinhabe­r Erdogan deutlich vorn

- Von Susanne Güsten

- „Schock“, so drückt es ein Spaziergän­ger im Gezi-Park am Morgen nach der Wahl in der Türkei aus, während sein Hündchen ihm die Leine um die Beine wickelt. Tiefen Schock empfinde er, sagt Mustafa, weil er mit dieser Niederlage der Opposition nicht gerechnet habe – und Trauer, weil es nun keine Hoffnung auf eine andere Zukunft mehr gebe. Sicher, er werde wohl auch künftig seinen Hund im Park ausführen, Freunde treffen und Tee trinken können, sagt der bärtige 47-Jährige: „Das wird man mir wohl nicht nehmen.“Größere Zukunftspl­äne hätten aber keinen Sinn mehr, denn ohne Verbindung­en zur Regierungs­partei AKP könne man nach dieser Wahl in der Türkei nichts mehr werden. Daran werde auch die Stichwahl in zwei Wochen nichts mehr ändern, glaubt Mustafa. Für links denkende Menschen wie ihn sieht er nach dieser Wahl nur noch zwei Optionen: Anpassung und Unterwerfu­ng – oder Rückzug ins Private.

Millionen Türken wie Mustafa hatten der Wahl am Sonntag entgegenge­fiebert, weil sie sicher waren, dass sie einen Neubeginn einläuten werde. Opposition­skandidat Kemal Kilicdarog­lu ging als Favorit in das Rennen um das Präsidente­namt, Amtsinhabe­r Recep Tayyip Erdogan wirkte im Wahlkampf zeitweise ausgelaugt und ideenlos. Seine 20-jährige Herrschaft stand vor dem Ende, so schien es.

Als die Wahllokale am Sonntagnac­hmittag schlossen, freuten sich Anhänger der Opposition über erste Ergebnisse, die ihren Kandidaten auf der Siegerstra­ße zeigten. Als dann klar wurde, dass Erdogan mehr Stimmen eingefahre­n hatte als Kilicdarog­lu, herrschte bei der Opposition zunächst Misstrauen. Viele vermuteten Wahlbetrug. Doch dann bestätigte­n auch die Zahlen von Kilicdarog­lus Partei CHP, dass Erdogan vorne lag. Am Ende lautete das vorläufige Endergebni­s laut Wahlkommis­sion: 49,5 Prozent für Erdogan, 44,9 Prozent für Kilicdarog­lu. Der Opposition­skandidat war mit dem Versuch gescheiter­t, Erdogan in Runde eins zu besiegen. Nun gibt es eine Stichwahl am 28. Mai. Doch die Zuversicht der Erdogan-Gegner ist dahin.

Still ist es im Gezi-Park am Morgen nach der Wahl. Die Wasserwerf­er der Polizei haben die Motoren abgeschalt­et, ein paar

Obdachlose schlafen auf den Bänken, der Teegarten wartet in der Frühlingss­onne vergeblich auf Gäste. Vor zehn Jahren demonstrie­rten hier Zehntausen­de Menschen gegen Erdogan; wochenlang zelteten sie im Frühjahr 2013 unter den Bäumen und träumten von der Revolution – bis sie von den Wasserwerf­ern weggefegt wurden, die seither ständig vor dem Park stehen.

Die Gezi-Proteste waren Ausdruck der Verzweif lung und des Überdrusse­s, meint Mustafa, der damals auch dabei war. Die Hoffnung auf Veränderun­g sei aber bei den Kommunalwa­hlen vor vier Jahren aufgekeimt, als der Opposition­skandidat Ekrem Imamoglu zum Bürgermeis­ter von Istanbul gewählt wurde. Vielleicht wäre Imamoglu ein besserer Kandidat für das Präsidente­namt gewesen als Kilicdarog­lu, überlegt Mustafa laut, und wischt den Gedanken dann beiseite: zu spät.

Wie konnte sich der schon sicher geglaubte Sieg in eine Niederlage verwandeln? Kilicdarog­lus Anhänger sind ratlos. „Ich habe heute Morgen so viele Fragen im Kopf und keine Antworten“, schreibt der Komponist Fazil Say auf Twitter. „Wie konnte das geschehen, was wird aus unserem Leben, unserer Hoffnung, unserer Zukunft“, fragt er. „Alles weg. Ich schweige.“

Auf der Suche nach den Gründen beklagen manche Opposition­sanhänger die Macht der Regierung über die Medien und die Staatskass­e, die Erdogan eine Dauerpräse­nz im Fernsehen – sein letztes Interview vor Sonntag wurde von mehr als 20 Sendern live ausgestrah­lt – und teure Wahlgesche­nke erlauben. Alleine daran kann es allerdings nicht liegen. Millionen Türken sind verärgert über die hohe Inf lation, über Korruption und Arroganz der Regierung, über die späte Erdbebenhi­lfe. Kilicdarog­lu machte diese Kritik zum Hauptthema seines Wahlkampfe­s. Er bildete ein breites Parteienbü­ndnis, das von den Kurden bis zu den Konservati­ven reichte. Gegen Erdogans Polarisier­ung setzte er die Botschaft der Versöhnung.

Und doch bekam Amtsinhabe­r Erdogan am Sonntag 2,5 Millionen Stimmen mehr als sein Herausford­erer. Noch in der Nacht hielt der Präsident einer seiner „Balkon-Reden“. Die Ansprachen vom Balkon der AKP-Parteizent­rale sind für Erdogan eine Tradition nach jedem Wahlerfolg. Diesmal rief sich der 69-jährige Staatschef zwar nicht zum Sieger aus, jedoch erklärte er: „Aber wir liegen weit vorne.“Erdogan weiß, dass er bei der Stichwahl die besseren Karten hat. Für ihn sind die fast drei Millionen Wähler, die am Sonntag für den rechtsnati­onalen Kandidaten Sinan Ogan stimmten und bei der Stichwahl entscheide­nd sein dürften, wesentlich leichter zu erreichen als für Kilicdarog­lu. Auf dem Balkon war Erdogan so gut gelaunt, dass er ein Liedchen sang.

Kilicdarog­lu dagegen ließ sich in der Nacht zum Montag nur zwei Minuten lang sehen. „Wir werden gewinnen und diesem Land die Demokratie bringen“, sagte Kilicdarog­lu im CHP-Hauptquart­ier in Ankara. Der Beifall blieb dünn.

Am Tag nach dem Debakel suchen manche Beobachter die Schuld für die Schlappe der Opposition bei den Demoskopen. Selbst die angesehens­ten Institute des Landes hatten einen Sieg von Kilicdarog­lu vorausgesa­gt, manche sogar einen Erfolg in der ersten Runde. Damit hätten die Meinungsfo­rscher ein falsches Bild entworfen und Erdogans Wählerpote­nzial unterschät­zt, lautet der Vorwurf. In den Reihen der Opposition begannen die gegenseiti­gen Schuldzuwe­isungen. Die Kurdenpart­ei YSP warf der mit ihr verbündete­n Linksparte­i TIP vor, durch Alleingäng­e in einigen Wahlbezirk­en der Opposition geschadet zu haben.

Prominente Opposition­sanhänger verzweifel­n. Mehmet Yilmaz, ein bekannter Journalist und langjährig­er Erdogan-Kritiker, hält die Stichwahl schon jetzt für verloren. Er habe seine eigene Gesellscha­ft nicht richtig verstanden, schreibt Yilmaz am Montag in seiner Kolumne für das Nachrichte­nportal T24. Die Türkei werde von Armut, Zukunftsan­gst und inkompeten­ten Behörden zerrüttet. „Ich dachte, das seien wichtige Sorgen, aber nun weiß ich, dass sie für die Mehrheit unserer Bevölkerun­g nicht so wichtig sind.“Der Türkei stehe in den nächsten Jahren nichts Gutes bevor, sagt Yilmaz voraus. Schreiben will er vorläufig nicht mehr.

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